Ausgesondert

Experten fordern die Abschaffung der Sonderschulen. Ist das wirklich ein Fortschritt?

Petra Scerba ist ein Elefant. Mit der rechten Hand berührt das Mädchen im roten Jäckchen seine Nase, den linken Arm hat es als Rüssel durch die rechte Armbeuge gestreckt. „Elefanten, Elefanten / sanfte Riesen grau in grau / tanzen gerne nur zur Trommel / hören jeden Ton genau“, singt der Musiktherapeut, und Petra und ihre Mitschüler gehen im Takt im Kreis, klatschen, drehen sich und schwingen ihre Rüssel. Nicht alle tun das von alleine: Eine Betreuerin bewegt die Hände eines Buben, die andere versucht, einen zweiten zum Aufstehen zu bewegen. Plötzlich läuft ein dritter Bub zur Tür, öffnet sie, die Betreuerin stürzt ihm nach, auf dem Gang fängt sie ihn ein. Sechs Kinder halten drei Erwachsene auf Trab: Alltag in der ersten Klasse der Sonderschule Leopoldsgasse.

Solche Szenen könnten in Zukunft seltener werden. Politiker wie ÖVP-Behindertensprecher Franz-Joseph Huainigg fordern eine Abschaffung der Sonderschule; Kinder wie Petra sollen dann ausnahmslos in Integrationsklassen kommen, wo sie gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern unterrichtet werden. Derzeit können Eltern wählen, ob ihre Kinder Sonderschulen oder Integrationsklassen besuchen. Die Forderungen stützen sich auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, die für Behinderte den „Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht“ verlangt. Die wesentlichen Inhalte der Konvention seien in Österreich erfüllt, sagte Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) im Jänner. Und tatsächlich ist in der Konvention nicht explizit von einer Abschaffung der Sonderschule die Rede, bestätigt Behindertenanwalt Erwin Buchinger, der sie 2008 als Sozialminister unterschrieben hat.

Buchinger will wie Huainigg trotzdem langfristig die völlige Abschaffung der Sonderschule – auch im Fall von schwer psychiatrisch gestörten Schülern oder mehrfachbehinderten Kindern, die weder gehen noch sprechen können. Eine „Integration um jeden Preis“ halten unter Sonderschullehrern, -direktoren und Eltern aber nur wenige für sinnvoll, und auch Kritiker Schmieds wie der grüne Bildungssprecher Harald Walser und Germain Weber, Präsident der Lebenshilfe, lehnen sie ab. Ihnen ist jedoch wichtig, dass der gemeinsame Unterricht zum Normalfall wird, der getrennte zur Ausnahme – dass etwa Migrantenkinder nicht mehr wegen mangelnder Sprachkenntnisse in Sonderschulen geschickt werden. Derzeit kommen sie noch eineinhalb Mal so oft in die Sonderschule wie deutschsprachige Kinder.

Die Vorteile der Integration sind inzwischen unumstritten. Sie gewöhnt Behinderte und Nichtbehinderte von klein auf an den Umgang miteinander; und sie erspart Menschen mit leichten Behinderungen oder Lernschwächen das Stigma des Sonderschulzeugnisses und erleichtert ihnen so den Berufseinstieg. Die Zahlen zeugen von ihrer Beliebtheit: Gab es in Wien 1986 erst eine Integrationsklasse, sind es heuer schon 682. Der größte Anstieg erfolgte jedoch in den ersten Jahren, seit 2000 gab es kaum Veränderung.

Doch auch Sonderschulen sind nicht mehr die tristen Verwahrungsstätten für behinderte und schwierige Kinder, die sie einmal waren. Viele bieten kleine Gruppen, engagierte Lehrer und eine Ausstattung, von der andere Schulen nur träumen können.

Petra Scerba ist acht und hat „umfassende Entwicklungsrückstände“. Sie war zuerst in einer Integrationsklasse, doch da habe es Therapien, auf die das Kind Anspruch habe, nicht gegeben, sagt ihre Mutter Karin; und der Lehrer habe Petra, die wegen einer Nierenkrankheit viel trinken muss, zum Wassertrinken bewegen wollen, indem er ihr Lieblingsgetränk – einen Saft aus der Apotheke – weggeleert habe.

Die fehlende Sensibilität einzelner Lehrer ist ein Grund, warum manche Eltern sich gegen Integrationsklassen entscheiden. Dort lehren ein Volks- und ein Sonderschullehrer im Team, was oft funktioniert, aber nicht immer – manche Volksschullehrer fühlen sich für die behinderten Kinder nicht zuständig, schieben sie gar mitsamt dem Sonderschullehrer in einen Nebenraum ab. In ihrer Ausbildung erfahren Volksschul-, Hauptschul- und AHS-Lehrer nichts über Sonderpädagogik. Soll der gemeinsame Unterricht gefördert werden, braucht es wohl zunächst eine Reform der Lehrerausbildung.

Ein weiterer Punkt: Gemeinsamer Unterricht ist nur bis zum neunten Schuljahr möglich. Will ein behinderter Jugendlicher danach weiter in die Schule gehen, ist er erst recht auf Sonderschulen angewiesen, wo es Berufsvorbereitungslehrgänge gibt. Dort trainiert er Kompetenzen wie Pünktlichkeit und absolviert Praktika – das Konzept wäre auch für nichtbehinderte Kinder geeignet, findet ein Coach.

Auch müsste für gemeinsamen Unterricht mehr Geld zur Verfügung stehen, wenn dieser gefördert werden soll. Denn zurzeit wird viel Geld in die Sonderschulen gesteckt, wenig in Integration. Die Schüler der Leopoldsgasse haben Räume für Bewegungs- und Sprachtherapie, spezielle Musikinstrumente und einen „Snoezelen-Raum“ mit Lavalampen, Wasserbett und entspannender Musik zu ihrer Verfügung – noch ein Grund für Eltern, sich für Sonderschulen zu entscheiden.

Einen Kompromiss bietet die „umgekehrte Integration“, die in der Leopoldsgasse gelebt wird. Hier wurden an einer Sonderschule – nicht, wie üblich, an einer Volksschule – Integrationsklassen eingerichtet. Behinderte und nichtbehinderte Kinder haben so Kontakt zueinander, und alle können die Einrichtungen der Sonderschule nützen. Monika Graner hat ihre drei nichtbehinderten Kinder in Integrationsklassen in der Sonderschule für Sehbehinderte in der Zinckgasse geschickt, um deren soziale Kompetenz zu fördern. „Für meine drei sind Kinder mit Handicaps etwas ganz Selbstverständliches, sie schauen hin und helfen“, sagt sie. Auch von den kleineren Klassen haben Graners Kinder profitiert, und ihre Zeugnisse wurden von einer Volksschule ausgestellt, mit der die Zinckgasse zusammenarbeitet.

Das Unterrichtsministerium hat übrigens inzwischen umgeschwenkt – in einem Arbeitspapier schlägt es nun vor, in einzelnen Regionen „Sonderschulen schrittweise zu inklusiven Bildungseinrichtungen“ umzuwandeln, bis 2020 österreichweit „eine Aufnahme in Sondereinrichtungen nicht mehr erforderlich sein“ wird.

Petras Musiktherapiestunde ist vorbei. Während ihre Mitschüler das Begrüßen üben, hat Petra Sprachtherapie. „Der Rock ist schmutzig. Mama gibt ihn in die Waschmaschine“, übt sie. Sprachtherapie könnte Petra übrigens auch in einer Volksschule bekommen – drei Betreuer für sechs Kinder gäbe es dort wohl nicht.

Falter, 29.2.2012

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