Wahlplakat von Viktor Orbán

„Sie wollen einfach regieren“

Am Sonntag wählt Ungarn, und der Sieg der Regierungspartei Fidesz unter Ministerpräsident Viktor Orbán steht bereits so gut wie fest. Der Osteuropaexperte Dieter Segert vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien erklärt, warum Fidesz so stark ist und was die Partei eigentlich will.

Interview: Ruth Eisenreich, Elisabeth Gamperl

Herr Segert, Europa blickt besorgt auf Ungarn, das Land zeigt autoritäre Tendenzen, die Wirtschaftslage ist katastrophal, die Arbeitslosigkeit hoch, aber trotzdem steht die Regierungspartei Fidesz in den Umfragen bei etwa 50 Prozent der Stimmen. Wie kommt das?

Dieter Segert: Der große Erfolg von Fidesz ist nur durch die Katastrophe der vorherigen sozialistischen Regierung zu erklären. Die Sozialisten haben in ihren zwei Legislaturperioden alle Sozialreformen zurückgefahren und etwa das Gesundheitswesen kostenpflichtig gemacht. Damit haben sie zugelassen, dass sich eine rechte Partei als die soziale Partei etablieren konnte. Dazu kommen die Korruptionsskandale der Sozialisten – Fidesz hat natürlich alles getan, um die im Gedächtnis der Bevölkerung zu halten.

Wer wählt Fidesz?

Einerseits macht Fidesz Klientelpolitik für die obere Mittelschicht. Die Einführung der Flat Tax – 16 Prozent Steuer auf alle Einkommen – ist für die, die ansonsten 30 oder mehr Prozent Steuer zahlen müssen, ein riesiger Gewinn, während sie für die ärmere Bevölkerung ein Nachteil ist. Seine Änderungen gehen also zugunsten der Bessergestellten. Andererseits zieht Fidesz aber mit der Förderung der nationalen Interessen und der Polemik gegen die internationalen Konzerne einen Großteil der Ungarn auf ihre Seite.

Warum springen die Ungarn auf diesen Nationalismus so an?

Nationalismus ist in Perioden der Unsicherheit immer ganz nützlich. Ungarn geht es wirtschaftlich nicht gut, die Arbeitslosigkeit ist hoch, besonders im Norden und Osten des Landes, in den ehemaligen Industriegegenden. Dort wählen deshalb auch besonders viele Menschen die rechtsextreme Jobbik. Viele Ungarn haben die Wende 1989 noch nicht verdaut. Sie haben auf politische Freiheit, den Wohlstand des Westens und ein höheres Lebensniveau gehofft, aber nur Ersteres bekommen. Solche Sachen werden mitunter vererbt: Die Jungen haben die Schwierigkeiten der Eltern bemerkt, deren Verunsicherung übernommen und ziehen jetzt radikale Schlussfolgerungen.

Fidesz hat mit einem neuen Mediengesetz die politische Kontrolle über die Medien verstärkt, das Wahlrecht geändert und die Macht des Verfassungsgerichts beschränkt. All diese Änderungen haben im Ausland große Empörung hervorgerufen, in Ungarn scheinen sie allerdings kaum jemanden zu berühren.

Die Ungarn sind zu sehr mit dem Überleben beschäftigt, um sich mit hoher Politik auseinanderzusetzen. Viele Menschen in Ungarn leben trotz Arbeit am Existenzminimum, viele brauchen mehrere Jobs. Jede Preiserhöhung ist eine Katastrophe. Dass Fidesz die Wohnnebenkosten gesenkt hat, ist für diese Menschen viel wichtiger als etwa das Mediengesetz.

Fidesz war ursprünglich eine liberale Bewegung von Studierenden und Intellektuellen. Wie konnte daraus die Partei werden, die Fidesz heute ist?

Fidesz hat 1993 eine Wende vollzogen, das war ein politischer Kunstgriff. Die bürgerliche Partei „Ungarisches Demokratisches Forum“ hat nach dem Tod von Ministerpräsident József Antall an Einfluss verloren. Dadurch wurde ein politischer Raum frei, und Fidesz wusste, da können sie nachrücken. Das haben sie auch gemacht – und zwar mit einer nationalistischen, teilweise rassistischen Argumentation bis hinein ins Rechtsextreme. Sie haben auch heute noch einen rechtsextremen Rand.

Fidesz hat eine Flat Tax eingeführt, aber andererseits die privaten Pensionskassen verstaatlicht und die Energieversorger per Gesetz gezwungen, ihre Preise zu senken. Das passt doch nicht zusammen – können Sie definieren, wofür die Partei heute steht?

Fidesz kann man ideologisch schwer einordnen. Sie verbünden sich auch mit Russland und mit China, sind aber in der Europäischen Volkspartei, die eine konservative Partei mit antirussischer und antichinesischer Orientierung ist. Sie finden, dass eine Ehe aus Menschen unterschiedlichen Geschlechts besteht, sie haben Obdachlosigkeit unter Strafe gestellt, sie haben eine Vorstellung von Staatsbürgerschaft, die die Ungarn in anderen Ländern einschließt. Am ehesten könnte man Fidesz als nationalpopulistische Partei bezeichnen.

Wenn man sich all diese Widersprüche ansieht – hat Fidesz überhaupt eine Ideologie? Was will die Partei?

Sie will einfach regieren. Ich denke, Viktor Orbán ist jedes Mittel recht, um seine Macht zu stärken.

Zur Person
Dieter Segert ist Universitätsprofessor in Wien mit den Forschungsschwerpunkten
politische Systeme in Ostmitteleuropa, politische Geschichte und Erbe des europäischen Staatssozialismus

Wiener Zeitung, 5.4.2014

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