Kalter Entzug

Deutschland hat gegen die Menschenrechte verstoßen, indem es einem heroinsüchtigen Häftling die Substitutionstherapie verwehrt hat. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im September entschieden. Der Kläger ist kein Einzelfall – in bayerischen Gefängnissen haben Süchtige kaum eine Chance auf Substitution.

Als er wieder draußen ist, ist alles wie immer. Die Reisetasche mit seinen Habseligkeiten in der Hand, setzt sich Markus Weigel an einem Wintertag Ende 2015 in den Zug nach München, steigt am Hauptbahnhof aus und besorgt sich als Erstes „was zum Zumachen“. Der Kick kommt schnell. An die ersehnte Abstinenz ist nicht mehr zu denken.

Ein paar Wochen später, ein Hinterhoflokal in München-Schwabing. Die Hilfsorganisation Condrobs betreut hier Drogensüchtige. Ein Tischfußballtisch, Plakate der Aidshilfe an den Wänden, Filterkaffee für 30 Cent. Neben der Tür eine schwarze Pinnwand mit Todesanzeigen: 1961 bis 2016, 1967 bis 2015, 1983 bis 2015.

Markus Weigel, Mitte 30, groß, kräftig, ruhig, tätowiert, fläzt auf einem braunen Kunstledersofa und erzählt mit einer tiefen, kratzigen Stimme von einer Drogenkarriere wie aus einem Abschreckungsfilm. Alkohol mit zwölf Jahren, dann Gras, Speed, Kokain, mit 14 erstmals Heroin, ein paar Jahre später Jugendhaft wegen Dealens. Immer wieder Substitution, Entzug, Rückfall, Substitution, Entzug, Rückfall, Substitution. Als Weigel wegen Diebstahls ins Gefängnis kommt, warnt ihn sein Zellengenosse: „Du kriegst hier nichts.“ Er behält recht. Diesen Text weiterlesen auf sueddeutsche.de

Süddeutsche Zeitung, 27.8.2016

Die Nachricht zum EGMR-Urteil auf sueddeutsche.de (Süddeutsche Zeitung, 2.9.2016)

Mein Kommentar zum EGMR-Urteil auf sueddeutsche.de (Süddeutsche Zeitung, 2.9.2016)

Manche Verbrechen dürfen nicht ungestraft bleiben – Kommentar

Ein junger Mensch, der eine Dummheit begangen hat, sollte nicht so hart bestraft werden wie ein Erwachsener – ganz egal, wie groß, wie monströs gar seine Dummheit war. Wer zur Tatzeit unter 21 war, kommt nach österreichischem Recht daher weniger leicht als ein Erwachsener ins Gefängnis (das Menschen oft krimineller macht) und kann nicht zu lebenslang verurteilt werden.

Letztere Regelung, so sinnvoll sie ist, führt allerdings zusammen mit einer bestimmten Formulierung im Verjährungsparagrafen dazu, dass junge Täter in Österreich selbst im Falle von Völkermord straffrei davonkommen können. Bisher kam das vor allem bei NS-Kriegsverbrechern zu tragen, in naher Zukunft wird es etwa auch die Vergewaltiger und Mörder von Srebrenica betreffen. Die Jüngeren unter ihnen können, wenn die Gesetzeslage nicht bald geändert wird, ab Juli 2015 von Österreich weder angeklagt noch an bosnische Gerichte ausgeliefert werden.Weiterlesen »

Wenn Völkermord verjährt

19 Jahre ist das Massaker von Srebrenica her. Einige Täter könnten bald straffrei ausgehen

Über 8000 ermordete Männer und Buben, Vergewaltigungen, Deportationen: Das Massaker von Srebrenica gilt als schwerstes Kriegsverbrechen in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Juli 2015 jährt es sich zum 20. Mal. Und dann, sagt der Historiker Winfried Garscha, könnten sich nach heutigem Recht viele der Täter in Österreich „hinstellen und sagen: ‚Ich habe in Srebrenica eigenhändig 25 Menschen umgebracht‘ – und ihnen würde nichts passieren“.

Viele Täter, sagt Garscha, seien Jugendliche oder junge Männer gewesen; einige seien wohl später in Österreich gelandet. Ihnen könnte bald eine kleine Ungenauigkeit im österreichischen Strafgesetzbuch zugute kommen.Weiterlesen »

Gezerre ohne Grenzen

Sofia, Oliver, Christian – die Namen dieser Kinder stehen für eskalierten Sorgerechtsstreit zwischen binationalen Elternpaaren. Sind die Gesetze untauglich?

Sofia bleibt in Österreich – zumindest vorläufig. Nach einem jahrelangen Sorgerechtsstreit und wochenlanger medialer Empörung über die geplante „Abschiebung“ der Sechsjährigen ist vergangene Woche für einige Zeit Ruhe eingekehrt.

Medial präsent war der „Fall Sofia“ seit dem Juni, als ein italienisches Gericht Sofias Mutter Doris Povse wegen Kindesentführung zu 15 Monaten Haft verurteilte. Povse hatte Sofia im Jahr 2008 von Italien zurück nach Österreich gebracht, nachdem sie sich vom – angeblich gewalttätigen – italienischen Vater des Mädchens getrennt hatte. Mehrere Gerichte ordneten an, dass Sofia nach Italien zurückkehren müsse, doch bevor der Gerichtsvollzieher das Mädchen abholen konnte, tauchten Mutter und Kind unter. Weiterlesen »

Der Substi-Streit

Österreich ist das einzige Land Europas, in dem Heroinsüchtige in großem Stil das Medikament Substitol bekommen – aber nicht mehr lange, wenn es nach der Innenministerin, der Polizei und manchen Medien geht. Ist Substitol wirklich so böse?

Vorsichtig öffnet der Apotheker die rotbraune Kapsel und leert den Inhalt in einen Plastikbecher: winzige weiße Kristalle, wie feucht gewordenes, verklumptes Salz sehen sie aus. Aber es kein Salz, sondern Morphinsulfat-Pentahydrat, ein Opiat, das ähnlich wirkt wie Heroin.

Unter dem Namen Substitol werden die Kapseln Süchtigen verschrieben, damit diese sich keinen Stoff auf der Straße kaufen müssen. Immer wieder sorgen die Ersatzdrogen für Empörung: Sie werden mit Schwarzmarkthandel, dealenden Ärzten und Todesfällen in Verbindung gebracht. Auch seriöse Zeitungen bringen Schlagzeilen wie „Heroinersatz: Das Millionengeschäft Drogensucht“ oder „Kassen finanzieren Schwarzmarkt für Ersatzdrogen“. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) forderte gar eine Einschränkung der Substitutionstherapie – und erntete einen Proteststurm.

Denn die Ersatztherapie ist eine Erfolgsgeschichte.Weiterlesen »