Die Regierung holt 1500 syrische Flüchtlinge nach Österreich. Aber die Auswahl ist intransparent, und die Neuankömmlinge werden sich selbst überlassen
Es war ein Frühlingstag im Jahr 2013, als Georg Ephraim auf seinem kleinen Acker in der syrischen Stadt Qamishli einer Gruppe bewaffneter Männer gegenüberstand. „Verschwinde“, sagten die Männer und entsicherten ihre Gewehre: „Das ist die letzte Warnung. Wenn du dich noch einmal hier blicken lässt, erschießen wir dich.“
Schon lange hatte sich Ephraim, ein syrisch-orthodoxer Christ, in Qamishli nicht mehr sicher gefühlt: Christliche Kirchen waren angegriffen, ein Schulkamerad seines Sohnes entführt worden, Islamisten hatten angekündigt, den ganzen Orient „von Ungläubigen säubern“ zu wollen. Nach dem Vorfall auf dem Acker fiel die Entscheidung: Ephraim, seine Frau und die vier Kinder ließen ihre Heimat zurück und flohen im Juli 2013 in den Libanon.
So jedenfalls erzählt Ephraim seine Geschichte heute, knapp ein Jahr nach seiner Flucht. Er sitzt auf der Galerie der kleinen syrisch-orthodoxen Kirche in Hietzing, neben ihm sein Schwager Omed Nahroyo, der wie Ephraim in Wirklichkeit anders heißt; er lebt seit 24 Jahren in Österreich und dolmetscht für Ephraim.
Auf dem Tisch vor den beiden Männern stehen kleine Gläser mit starkem arabischem Tee, an der einen Wand hängt ein Jesusbild, an der anderen eine Schultafel mit deutschen Vokabeln: „Mein Brot, Dein Heft, Deine Tasche“.
Das Versprechen: Die Republik hilft
Ephraim ist einer von 361 Syrern, die bis Ende Mai über eine humanitäre Aktion der Republik nach Österreich gekommen sind. Im August 2013, mitten im Wahlkampf, hatten Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und der damalige Außenminister Michael Spindelegger (beide ÖVP) angekündigt, 500 Syrer – vor allem Christen – nach Österreich zu holen.
Für ihre Ankündigung bekamen die beiden Lob, aber auch Kritik: Erstens wegen der Zahl 500, die gemessen an den Millionen von heimatlos gewordenen Syrern lächerlich niedrig erscheint, im EU-Vergleich aber hoch ist.
Zweitens wegen Spindeleggers Ankündigung, vor allem Christen aufzunehmen. Im Ministerium spricht man nun nicht mehr von Christen, sondern von „besonders schutzbedürftigen Gruppen“.
Wie setzt die Regierung ihr Versprechen nun um? Recherchen bei Flüchtlingen, Kirchen und Hilfsorganisationen zeigen Missstände und einen Rückzug der Behörden aus der Verantwortung. Das Erstellen der Flüchtlingslisten überlässt die Republik Kirchen, die intransparent agieren; die Betreuung der Neuankömmlinge müssen überforderte Familien übernehmen.
Die Auswahl: intransparent
Die Probleme beginnen schon bei der Auswahl: Nominiert wurden die 500 Flüchtlinge auf zwei unterschiedlichen Wegen. 250 Plätze vergab das UN-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR), das Flüchtlinge seit Jahren über sogenannte Resettlementprogramme in verschiedene Länder umsiedelt und ein komplexes, langwieriges, aber gut erprobtes Auswahlprozedere praktiziert; bisher sind erst knapp über 100 UNHCR-Flüchtlinge in Österreich eingetroffen.
Die anderen 250 Flüchtlinge schlugen diverse Kirchen vor; sie sind inzwischen allesamt im Land. 28 von ihnen kamen laut Ministerium über die Erzdiözese Wien, die von Kirchenvertretern im Nahen Osten eine Liste mit Namen bekommen hatte; 16 kamen über die griechisch-orthodoxe Kirche, zehn über die Evangelikale Gemeinde, acht über das Rote Kreuz, 47 von „Sonstigen“. Die meisten aber, 143 Menschen, standen auf der Liste des syrisch-orthodoxen Chorepiskopos Emanuel Aydin. Er steht jener Hietzinger Kirche vor, in der nun Georg Ephraim und Omed Nahroyo sitzen.
Unter den Millionen Syrienflüchtlingen, die dringend Hilfe benötigen, einige hundert auszuwählen, ist eine schwierige Aufgabe; eine gewisse Willkür lässt sich dabei nie verhindern. Das Innenministerium traf die Endauswahl unter den von den Kirchen Vorgeschlagenen nach einer Reihe von Kriterien: Aufgenommen werden sollten „besonders schutzbedürftige“ Menschen wie Kinder, Frauen, Angehörige religiöser Minderheiten (etwa Christen), Überlebende von Gewalt und Menschen, die medizinische Behandlung brauchen. Bevorzugt wird außerdem, wer schon Angehörige in Österreich hat.
Diese Kriterien sollen sicherstellen, dass nur Menschen nach Österreich kommen, die tatsächlich besonders schutzbedürftig sind. Doch sie treffen auf weit mehr als 500 Syrer zu – wie also verhindern, dass die Auswahl unter den infrage Kommenden aufgrund von persönlichen Beziehungen oder Bestechung geschieht?
Das UNHCR wendet zu diesem Zweck ein Vier-Augen-Prinzip an, erklärt ihre Sprecherin Ruth Schöffl: Lasse sich ein Flüchtling beim UNHCR registrieren, werde ein Dossier über ihn erstellt. Zu diesem Zeitpunkt wisse er noch gar nicht, ob er für ein Resettlementprogramm infrage kommt. Bei der Auswahl der Flüchtlinge für ein Programm würden dann diese Dossiers herangezogen. Ein Mitarbeiter treffe die Entscheidung; ein zweiter, der mit dem ersten nicht nahe zusammenarbeite, überprüfe und kontrolliere sie. So sei es auch bei den 250 Syrern gelaufen, die das UNHCR für Österreich auswählte.
Die Kirchen haben für „ihre“ 250 Syrer kein vergleichbares Kontrollsystem, und so bleibt ihre Auswahl trotz der Kriterien des Ministeriums einigermaßen intransparent, wie das Magazin Datum bereits berichtete. In der syrischen Community und bei NGOs kursieren Gerüchte, dass der syrisch-orthodoxe Priester Aydin beim Erstellen seiner Liste Freunde bevorzugt habe. Beweise gibt es für diesen schweren Vorwurf nicht, auch Aydin weist ihn zurück: „Jeder will seine Leute holen“, sagt er, „aber ich kann keine Wunder vollbringen.“
Die Kritik an Aydin sei „ungerecht“, findet auch Herbert Langthaler von der NGO Asylkoordination. Er sieht den Fehler bei der Regierung: „Das Innenministerium trägt Unruhe und Rivalitäten in die kirchlichen Gemeinden hinein. Die Auswahl einem Pfarrer umzuhängen führt automatisch zu Vorwürfen.“
Die Hilfsorganisationen: außen vor
Im April hat Innenministerin Mikl-Leitner angekündigt, nach den 500 weitere 1000 Syrer nach Österreich zu holen: 600 über das UNHCR, 400 im Rahmen von Familienzusammenführungen über die Kirchen. Man hat offenbar aus den Fehlern gelernt. Ein standardisiertes Formular soll Ungerechtigkeiten verhindern, jedermann kann damit direkt beim Ministerium Namen von Hilfsbedürftigen nennen. Die Erzdiözese Wien wiederum koordiniert die verschiedenen Kirchenlisten; sie hat allerdings keine konkreten Strategien, um Korruption und Freunderlwirtschaft zu verhindern.
Professionelle Flüchtlingshilfsorganisationen wie Caritas oder Rotes Kreuz sind auch diesmal nicht eingebunden. „Es hat sich niemand mit uns in Verbindung gesetzt“, sagt etwa Bernhard Schneider vom Roten Kreuz: „Dabei sind wir in Österreich der Hauptakteur bei Familienzusammenführungen, haben viele Anfragen von Syrern und hätten Nützliches beizutragen.“
Zurück in die Hietzinger Kirche des syrisch-orthodoxen Pfarrers Aydin. Er hat bereits eine neue Liste an die Diözese geschickt. Auf seinem Smartphone scrollt er eine lange Tabelle durch: 811 Namen sind es diesmal.
Auf einer ähnlichen Liste standen einst auch die Namen von Georg Ephraim und seiner Familie, die sich nach Beirut durchgeschlagen hatten. Sie hatten Glück und wurden für das österreichische Aufnahmeprogramm ausgewählt. „Ich konnte vor Freude die ganze Nacht nicht schlafen“, sagt Ephraim.
In den Wochen darauf begleiteten Mitarbeiter einer Hilfsorganisation ihn und seine Familie zur österreichischen Botschaft und zu medizinischen Untersuchungen, buchten die Flüge nach Wien, brachten die Ephraims in Beirut zum Flughafen, holten sie in Schwechat wieder ab und brachten sie ins Erstaufnahmezentrum Traiskirchen. Dort bekam die Familie ihre positiven Asylbescheide und wurde nach wenigen Tagen in die österreichische Freiheit entlassen.
Besser gesagt: in die Verantwortung des Schwagers Nahroyo.
Der Behördendschungel: dicht
„Ich bin zwei Monate lang fast jeden Tag um halb sieben los und habe den ganzen Vormittag mit Amtswegen verbracht“, erzählt Nahroyo, der nachmittags in einem Hotel arbeitet. E-Cards, Familienbeihilfe und Mindestsicherung mussten beantragt, eine Wohnung für sechs Personen ohne festes Einkommen gefunden, die drei größeren Kinder in Schulen angemeldet werden.
Laut Innenministerium haben die Syrienflüchtlinge in den ersten vier Monaten Anspruch auf jene Grundversorgung, die auch Asylwerber bekommen; im Unterschied zu diesen dürfen sie außerdem arbeiten. Asylwerber aber werden üblicherweise in der ersten Zeit von NGOs betreut, die dank ihrer Erfahrung wissen, wer Anspruch auf welche Leistungen hat und was wann bei welcher Stelle beantragt werden muss.
Die Syrer hingegen haben nach den ersten Tagen in Traiskirchen weder zu den Behörden noch zu NGOs engeren Kontakt. Der Staat Österreich überträgt den Familien und Kirchenvertretern wie Aydin die Verantwortung für sie.
Die Flüchtlinge werden sich schon selbst integrieren, hoffen die Ministerialbeamten offenbar. Sie übersehen, dass die Familien damit vor einem Behördendschungel alleingelassen werden, der selbst für alteingesessene Österreicher kaum zu durchschauen ist.
Die Kosten: zahlt die Familie
Obwohl die Republik den syrischen Flüchtlingen Deutschkurse finanzieren will, haben Georg Ephraim und seine Frau nach vier Monaten im Land immer noch keinen Kursplatz. Ebenso wenig hat die Familie psychologische Betreuung bekommen, obwohl Ephraim offensichtlich traumatisiert ist. „Wahrscheinlich könnten wir welche in Anspruch nehmen“, sagt Nahroyo. „Aber wir haben noch gar nicht gefragt.“
Zu Beginn musste Nahroyo die Familie des Schwagers sogar finanziell unterstützen, denn bis die Behörden die verschiedenen Anträge bearbeitet hatten und die Unterstützungsgelder eintrudelten, vergingen Wochen. Die NGO Bewegung Mitmensch, die Flüchtlinge aus dem Aufnahmeprogramm betreut, geht von anfänglichen Kosten von 2000 bis 3000 Euro pro Familie aus; etwa so viel will auch Nahroyo bisher vorgestreckt haben.
Nicht eingerechnet sind da die Flüge nach Österreich: 1500 Euro habe er für die sechs Tickets bezahlt, sagt Nahroyo. Für die Flüge der UNHCR-Flüchtlinge kommt das Innenministerium auf, das dafür auch Gelder von der EU kassiert. Die Flüge der Kirchenflüchtlinge hingehen werden meist von deren Angehörigen oder den Kirchen gezahlt. Aus dem Ministerium heißt es auf die Frage nach den Kriterien dafür nur kryptisch, man zahle, „wo Kosten entstehen“.
Ähnliche Erfahrungen wie Omed Nahroyo machen derzeit viele Helfer in Österreich. „Das läuft alles auf der Beziehungsebene, über informelle Vernetzung“, erzählt eine Sozialarbeiterin, die für die Pfarre Schwechat eine syrische Familie betreut: „Vom Staat Österreich war nicht viel zu spüren.“
Das Innenministerium hat immerhin Anfang März – da waren die ersten Syrer schon seit Monaten in Österreich – eine Ausschreibung für „Integrationsmaßnahmen für 250 syrische Flüchtlinge“ gestartet. Es sucht eine Organisation, die alle Leistungen bündelt, von Deutschkurs bis Kinderbetreuung, von der Begleitung bei Behördengängen bis zur Job- und Wohnungssuche.
Bis heute wurde nicht entschieden, welche Organisation den Zuschlag für diese Aufgaben bekommt; wie Falter-Recherchen zeigen, streiten Innen- und Außenministerium um die Zuständigkeiten und Kosten dafür.
Die Ausschreibung bezieht sich aber sowieso nur auf jene Flüchtlinge, die das UNHCR ausgewählt hat. Flüchtlinge wie Georg Ephraim sind auch in Zukunft auf ihre Verwandten und die Kirchen angewiesen.
Ein paar Zahlen:
361 Syrer sind bisher (Stichtag: 28. Mai) laut Innenministerium über die humanitäre Aktion nach Österreich gekommen, davon 191 Frauen und Mädchen und 170 Männer und Buben.
158 von ihnen sind Kinder unter 18 Jahren.
1139 weitere Flüchtlinge sollen in den nächsten Monaten folgen.
2,5 Millionen Euro hat die Republik bisher laut Ministerium für das Programm ausgegeben, 1 Million davon kam von der EU.
1269 Syrer sind zwischen Jänner und April 2014 auf anderen Wegen nach Österreich gekommen und haben Asyl beantragt.
Falter, 4.6.2014