Wie lange kann ein Mensch arbeiten? Die Ärzte am AKH sind bis zu 49 Stunden im Einsatz. Sie retten Leben und brennen dabei aus. Eine Schicht mit einem Chirurgen
Wie gekreuzigt liegt der alte Mann auf dem OP-Bett, mit seitlich weggestreckten Armen, von der Hüfte abwärts mit einem Tuch bedeckt. Sein Bauch ist aufgebläht, der Darmdurchbruch 24 Stunden her, seine Überlebenschance beträgt zehn Prozent. Eine Ärztin bestreicht den Bauch des Mannes mit orangem Desinfektionsmittel, dann setzt Christoph Jung den ersten Schnitt.
Es ist 22.20 Uhr. Christoph Jung ist seit mehr als 15 Stunden im Einsatz. Um sieben Uhr morgens hat er zu arbeiten begonnen, erst am nächsten Tag, um 16.15 Uhr, wird Jung nach Hause gehen. 33 Stunden wird sein Dienst dauern.
Christoph Jung ist Chirurg am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH), dem größten Spital der Stadt. Jeder Wiener kennt diese Gesundheitsfabrik am Gürtel. Doch nur wenige haben Einblick in die Bedingungen, unter denen die Ärzte hier arbeiten. Die meisten, die diesen Einblick bieten können, wollen nur anonym mit uns reden; sie fürchten um ihre Jobs. Auch Christoph Jung heißt in Wirklichkeit anders.
Was für einen normalen Büromenschen unvorstellbar ist, ist für Doktor Jung Routine. Wie die meisten AKH-Ärzte bleibt er ein- bis zweimal pro Woche zwischen zwei Tagschichten im Spital, einmal im Monat hat er Wochenenddienst. Der dauert 49 Stunden, von Samstag früh bis Montag früh. Dafür ist dann der restliche Montag frei.
Dass die Ärzte des AKH an der Belastungsgrenze arbeiten, ist in letzter Zeit verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gedrungen: Im Herbst hatten die AKH-Ärzte mit massiven Protesten Einsparungen bei den Nachtdiensten verhindert. Vor wenigen Wochen gerieten die prekären Zustände des Spitals erneut in die Schlagzeilen: Eine Schwangere wurde trotz Blutungen nach Hause geschickt und verlor ihr Kind.
Heute weiß man, dass die Ärzte das Baby nicht retten hätten können. Dennoch wirft der Fall ein Schlaglicht auf ein Problem. Denn Thomas Szekeres, Betriebsratsvorsitzender der AKH-Ärzte, sagte damals, die Frau sei wohl auch aufgrund der Überlastung der Ärzte abgewiesen worden. Und so stellt sich, abseits der Schlagzeilen, eine ganz grundsätzliche Frage: Warum haben ausgerechnet Spitalsärzte – eine Berufsgruppe mit extrem hoher Verantwortung – so lange Arbeitszeiten? Was bedeutet es, 33 Stunden am Stück zu arbeiten? Und: Ist das eigentlich legal?
Das Krankenanstalten-Arbeitszeitgesetz erlaubt Zustände, die Gewerkschaften normalerweise wütend bekämpfen würden. Während die meisten Arbeitnehmer nur in Ausnahmefällen bis zu zwölf Stunden pro Tag und bis zu 60 pro Woche arbeiten dürfen, sind 60 Wochenstunden für AKH-Ärzte ganz normal. In einzelnen Wochen dürfen sie bis zu 72 Stunden arbeiten, und selbst diese Höchstgrenze hat 2010 laut eigener Aussage gut jeder zweite Wiener Spitalsarzt mindestens einmal gebrochen.
Immerhin: Es gibt ein Arbeitszeitgesetz – vor 15 Jahren war das noch nicht der Fall -, und Wolfgang Schütz, Chef der gut 1500 AKH-Ärzte, musste schon einmal für Verstöße 45.000 Euro Strafe zahlen. Seitdem hat sich die Situation gebessert, sagen die Ärzte. Davor waren 14 Nachtdienste im Monat keine Seltenheit, in einer Woche arbeiteten die Ärzte bis zu 120 Stunden – Forschung nicht mit eingerechnet.
Heute hält sich das AKH offiziell strikt an das Arbeitszeitgesetz, in den elektronischen Dienstplanmanager können Ärzte nicht mehr Dienste eintragen als erlaubt. Wann sie aber ihren Dienst beginnen und wann sie wieder nach Hause gehen, das kontrolliert das Programm nicht. Immer wieder habe es Vorschläge gegeben, auch dies zu erfassen, erzählt ein Arzt – von oben habe es dann geheißen, das sei „technisch nicht möglich“.
Es ist sieben Uhr früh. Christoph Jungs Tag beginnt. In 30 Minuten startet seine Morgenbesprechung. Da berichtet der „Hauptdienst“ seinen Kollegen von den Ereignissen der letzten Nacht, dann wird der kommende Tag besprochen. An den glänzenden blassrosa Wänden des Besprechungsraums hängen Ölporträts von bedeutenden Ärzten. 30 Menschen in Weiß sitzen einander auf Plastiksesseln gegenüber, darunter fünf Frauen. Von „bidirektionaler Peristaltik“ ist hier die Rede, von „Rezidivnarbenhernien“, vom „intraabdominellen Compartmentsyndrom“ und vom „präoperativen progressiven Pneumoperitoneum“.
Das AKH ist eine Universitätsklinik. Seine Ärzte sind nicht direkt am Krankenhaus beschäftigt, sondern bei der Medizinuniversität Wien (MUW). Diese Doppelstruktur bringt Probleme. Für MUW-Rektor Wolfgang Schütz sind Forschung und Lehre die Hauptaufgabe der AKH-Ärzte.
Die meisten Ärzte sehen das anders. „Ich kann ja nicht weggehen und Forschung machen, wenn da ein blutender Patient liegt“, sagt einer. Doch vor allem junge Ärzte bekommen oft nur dann Vertragsverlängerungen, wenn sie genug geforscht haben.
Die Forschung wird daher in der Freizeit erledigt, außerhalb der bis zu 72 Stunden dauernden offiziellen Arbeitszeit. „Jeder Junge, der was erreichen will, ist länger da“, sagt die Oberärztin Monika Ferlitsch. Ein Assistenzarzt Ende 20 bestätigt das. Er komme inklusive Forschung in extremen Wochen auf 100 Stunden Arbeitszeit. „Aber wir machen das ja gern“, sagt er, „da haben wir alle einen gewissen Vogel.“
Der junge Arzt will nur anonym zitiert werden; sein Job ist prekär genug. Er hantelt sich von Mutterschutz- zu Forschungsstelle, 13 Dienstverträge hatte er in den letzten zwei Jahren. „Ich mache mir keine Sorgen, dass ich langzeitarbeitslos werde“, sagt er, „aber es ist zermürbend, wenn man nie weiß, wie es in vier Wochen weitergeht.“
Die Morgenbesprechung ist vorbei, Christoph Jungs erste Operation steht an. Rotes Bettenhaus, Ebene 9, OP-Gruppe V. Blassrosa Wände, oranger Boden, orange Türen, Neonlicht. Zweieinhalb Stunden dauert der Eingriff: Nach einer Leberoperation hat sich bei dem Patienten eine neun Zentimeter große Lücke in der Bauchdecke gebildet, Narbenbruch nennen Ärzte das. Mit einem Kollegen setzt Jung ein Kunststoffnetz ein. Während der nächste Patient vorbereitet wird, hat er Pause. Im Supermarkt in der Eingangshalle kauft er eine Orange und einen Joghurtdrink, das in Plastik abgepackte Weckerl nimmt er fast ohne hinzuschauen aus dem Korb. Bis spätabends wird es seine einzige Mahlzeit sein.
Christoph Jung mag seinen Job, wie die meisten seiner Kollegen. Sie schätzen die Abwechslung am AKH, die Herausforderung der komplexen Fälle. „Wir haben ja gewusst, worauf wir uns einlassen“, sagen sie, wenn man sie auf ihre Arbeitszeiten anspricht. Und sie haben Strategien entwickelt, um damit umzugehen. Sie widmen den zweiten Tag eher der Wissenschaft als den Patienten; und wer am Ende ist, geht nach Hause. Das ist allerdings selten.
Es ist 16.33 Uhr. Die zweite Operation ist vorüber, Christoph Jung begutachtet CT-Bilder, bespricht sich mit Kollegen, stürzt zwei Gläser Wasser hinunter. „Viel Wasser trinken ist das Wichtigste“, sagt er, „sonst wird man schnell müde.“
Die Gallenblasenentzündung eines Patienten ist schlimmer geworden, er muss operiert werden. Eine Patientin hat einen Erguss in der Lunge, mit einer millimeterdicken Nadel saugt Jung einen Liter rosa Flüssigkeit heraus.
Auch den Ärzten geht es nicht gut. Die langen Schichten haben Nebenwirkungen. Psychische Erkrankungen und Alkoholismus seien häufig, erzählt ein Chirurg, er selbst habe mit knapp 40 drei mittelschwere Burn-outs hinter sich. Sechs von zehn Wiener Ärzten leiden laut einer Studie von 2011 unter Burn-out-Symptomen, einer von acht unter einem schweren Burn-out. „Ich bin nach jedem Nachtdienst zwei Tage krank“, sagt ein Arzt um die 50, „Schlafstörungen, Schwindelattacken, Verdauungsprobleme.“
20.17 Uhr. Notfallambulanz, Rotes Bettenhaus, Ebene 6, blassrosa Wände, roter Boden, rote Türen, Neonlicht. Ein Mann ist Tage nach der Beinamputation auf seinen Stumpf gefallen. Er muss noch einmal operiert werden. „Ich bin nicht begeistert“, jammert der Patient. „Ich auch nicht, das können Sie mir glauben“, sagt Jung.
Jetzt hinauf auf die Station, jemand hat eine Wurstplatte mitgebracht. Ebene 21, blassrosa Wände, grüner Boden, grüne Türen, Faschingsgirlanden, Neonlicht. Gerade hat sich Jung ein paar Scheiben Wurst auf den Teller gehäuft, da geht sein Piepser. Wieder einmal. Im Lift lehnt Jung den Kopf nach hinten gegen die Wand, schließt die Augen, fährt sich mit den Händen durchs Gesicht. Unten warten ein Mann mit einer Hämorrhoide, die sich als perianale Thrombose entpuppt, einer mit einem eitrigen Finger und eine kotzende Frau.
Eigentlich ist das AKH als Uniklinik für die ganz schwierigen Fälle da. Hier arbeiten die Spezialisten, hier gibt es teures medizinisches Gerät. Doch weil es das größte und bekannteste Krankenhaus Wiens ist, kommen viele Patienten nächtens auch wegen Lappalien hierher. Und weil in Wien kaum geregelt ist, welches Spital für welche Patienten zuständig ist, liefert auch die Rettung Patienten gerne im AKH ab. Das macht die Nachtdienste nicht einfacher.
Es ist kurz nach Mitternacht. Im OP hat sich Kotgeruch ausgebreitet. Er stammt vom Dickdarm des Darmdurchbruchspatienten, der vor kurzem auf einem grünen Tuch ausgebreitet war und von drei Ärzten begutachtet wurde. Christoph Jung steht noch immer am OP-Tisch, gemeinsam mit einer Kollegin näht er den Bauch des alten Mannes zu. Die Operation geht zu Ende, eine Schwester und ein Arzt zählen schon die Instrumente ab. Eine andere sitzt auf einem Drehsessel, die Augen geschlossen, ihr Kopf ist nach vorne gefallen. Auf dem blauen Linoleumboden eine Blutlache.
7.46 Uhr. 24 Stunden Dienst sind um. Wieder das Grüne Bettenhaus, wieder das Zimmer mit den Ölporträts, wieder eine Morgenbesprechung. Diesmal ist es Jung, der von der Nacht berichtet. Gleich nach dem Darmdurchbruch hat er noch einen Darmverschluss operiert, die Galle hat ein Kollege übernommen. Es war eine anstrengende Nacht, aber alles ist gut gegangen.
Keiner der Ärzte, mit denen wir reden, will je aus Müdigkeit einen groben Fehler gemacht haben. Aber dass die Leistungsfähigkeit sinkt, bestätigen sie alle. „Einmal habe ich nach einer Nacht ohne Schlaf eine Patientin dreimal gefragt, wo es ihr wehtut. Ich konnte es mir einfach nicht mehr merken“, sagt etwa der Chirurg Peter Dubsky, einer der wenigen Ärzte, die unter Nennung ihres Namens sprechen.
Ein anderer Arzt erzählt, er sei einmal in einem stressigen Dienst nach einer halben Stunde Schlaf geweckt worden und habe minutenlang nicht gewusst, wie er heiße.
Als Christoph Jung die vierte Operation des Tages beendet hat, war es drei Uhr früh; seit Beginn seiner Tagschicht waren 20 Stunden vergangen. Jetzt konnte er sich schlafen legen, für drei Stunden. Immerhin. In manchen Nächten arbeitet er durch.
20 Stunden ohne Schlaf. Was bedeutet das eigentlich? Eine Studie zeigte, dass die Leistungsfähigkeit eines Menschen so sinkt, als hätte er 0,5 Promille Alkohol im Blut. Ein Auto darf man in diesem Zustand nicht mehr lenken, operieren schon.
8.12 Uhr. Nach der Morgenbesprechung gibt es Frühstück. Kipferl, Kaffee, CT-Bilder eines Lebertumors. Ein neuer Patient ist gekommen, Jung versucht, ein Bett aufzutreiben. Zwischen Patientenbesuchen telefoniert er. „Ist bei euch noch ein Bett frei? Aha.“ „Habt ihr noch Platz für -? Ok.“ Jung fährt sich mit den Händen übers Gesicht.
Nach gut einer Stunde ist ein Bett gefunden. Könnte so etwas nicht auch eine Sekretärin erledigen? Könnte sie. Etwa ein Drittel ihrer Arbeitszeit verbringen Spitalsärzte mit Verwaltungstätigkeiten. Vier von fünf Ärzten fühlen sich davon „eher“ oder „sehr“ belastet – der höchste Wert unter allen Belastungsfaktoren. Bei jungen Ärzten kommen zu den Verwaltungs- auch noch Routinetätigkeiten hinzu, die an vielen anderen Spitälern Schwestern übernehmen. „Ich habe einmal an einem Tag 48 Blutabnahmen gemacht“, erzählt ein Turnusarzt, „das war wie Fließbandarbeit.“
15.03 Uhr. In einer halben Stunde ist Christoph Jungs Dienst zu Ende. Bei einer Leberoperation hat er noch assistiert, dann eine weitere Visite absolviert. Jetzt bespricht er sich mit den Schwestern und einem Kollegen, der heute Nachtdienst hat. Bei welchem Patienten gibt es Schwierigkeiten, wessen Blutbild hat sich verändert, wer soll welches Medikament bekommen?
Die Übergaben sind ein Grund, warum nicht alle Ärzte für kürzere Arbeitszeiten eintreten. Jeder zusätzliche Dienstwechsel vergrößere die Gefahr, dass bei der Übergabe Informationen verlorengehen, sagen sie, und die Patienten wollen nicht ständig mit neuen Ärzten konfrontiert werden.
Stefan Kriwanek, Chirurg am Donauspital, kann nach dem Nachtdienst um neun Uhr nach Hause gehen; als er jung war, musste er bis zum Nachmittag bleiben. Er kennt also beide Systeme und versteht die Bedenken der Kollegen am AKH. Mit einer guten Übergabetechnik lasse sich das Problem aber lösen, sagt Kriwanek, und es rechtfertige keine Schichten über 25 Stunden.
Neben der Übergabe ist es vor allem das Geld, das die Ärzte so lange arbeiten lässt. Etwa 3000 Euro brutto verdient ein junger Arzt am AKH, pro Nachtdienst kommen etwa 300 Euro dazu. Kürzere Dienste könnten auch weniger Gehalt bedeuten. Die Bereitschaft der Ärzte, aktiv für kürzere Arbeitszeiten zu kämpfen, hält sich also in Grenzen. Ihren Chefs kann das nur recht sein. Und so werden die Ärzte weiterhin auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit in Eineinhalbtageschichten Menschen heilen.
16 Uhr. Die Frau mit den Strähnchen im Haar weiß nicht, dass Christoph Jung seit einer halben Stunde außer Dienst ist. Ihre Mutter soll demnächst operiert werden, doch ihre Leberwerte sind schlecht. Die Frau stellt dieselben Fragen immer wieder. Jung beantwortet sie geduldig, zweimal, dreimal. Schließlich ist die Frau beruhigt.
In seinem Dienstzimmer auf Ebene 7, blassrosa Wände, blauer Boden, blaue Türen, Neonlicht, zieht Christoph Jung sich um. Nach 33 Stunden raus aus der weißen Hose und den weißen Schuhen. Hinein in Jeans, Hemd, V-Pullover. Zu Hause wird er erst einmal eine Runde schlafen.
Der Patient mit dem Darmdurchbruch lebt noch.