Die Frau im Tor

Mit 16 hat Susanne Peter die Gruft mitgegründet. 26 Jahre später kämpft sie immer noch für Obdachlose

Wären die Schmalzbrote nicht gewesen, wäre Susanne Peter heute wohl Nonne. Gläubige Katholikin, Ministrantin, in der Pfarrjugend engagiert – sie hatte die besten Voraussetzungen für ihren Traumberuf. Aber da waren die Schmalzbrote, da war der Tee, und da war der Keller unter der Barnabitenkirche. Deshalb ist Susanne Peter, 42, heute keine Nonne, sondern eine Institution der Wiener Obdachlosenhilfe.

Während einer Religionsstunde im Amerlinggymnasium im Herbst 1986 beschließen ein paar Schüler, den Grundsatz der christlichen Nächstenliebe in die Tat umzusetzen. Sie eröffnen unter der Kirche an der Mariahilfer Straße eine Wärmestube, sechsmal pro Woche von 14 bis 16 Uhr geben sie gratis Schmalzbrote und Tee an Obdachlose aus. So beginnt die Geschichte der Gruft, die heute 24 Stunden am Tag für Obdachlose geöffnet ist, wo sie schlafen, essen, duschen und ihre Wäsche waschen können.

„Die Susi war von Anfang an eine der eifrigsten“, sagt Pater Albert Gabriel, der Religionslehrer, in dessen Unterricht die Gruft entstand. Es hat ihn nicht überrascht, dass sie als einzige Schülerin nach der Matura weitermachte. Was für andere ein Schulprojekt war, wurde für Susanne Peter zur Lebensaufgabe.

Die Gruft verbirgt sich hinter einer schlichten Tür an der Seite der Barnabitenkirche, ein paar Stufen unter dem Straßenniveau; wer nicht nach ihr sucht, nimmt sie nicht wahr. So unauffällig wie der Eingang zur Gruft ist auch ihre dienstälteste Mitarbeiterin. In hellen Jeans und lila Sweatweste, eine selbstgebastelte Kette um den Hals, sitzt Susanne Peter an ihrem Schreibtisch – eine resch wirkende Frau mit einer unerwartet sanften Stimme. Über dem Tisch hängen Bilder von Delfinen, eine Rapid-Autogrammkarte und Babyfotos.

Nein, das Baby ist nicht ihres, aber es hat Susanne Peter wohl einiges zu verdanken. Seine Eltern hat Peter in einem Gebüsch auf der Donauinsel kennengelernt. Sie hatten seit Jahren keine Wohnung, kein Einkommen, keine Dokumente, dann wurde die Frau schwanger. Susanne Peter verhalf ihnen zu einer Wohnmöglichkeit, das Baby kam gesund zur Welt, nun will das Paar heiraten.

Susanne Peter hat viele solche Geschichten auf Lager, doch sie wird immer wieder unterbrochen. Ein Mann mit einem Stapel Brotscheiben in der Hand will die Termine der Rechtsberatung wissen, ein Kollege ruft an wegen eines schwierigen Klienten, ein Junkie bittet um einen Spitzer – ja, tatsächlich um einen Spitzer -, eine Frau im Pelzmantel bringt Schuhe und Pullover vorbei; ein Mann mit schwarzen Zähnen braucht Hilfe beim Ausfüllen seines Mindestsicherungsantrags und erzählt von seinem neuen Freund; ein Bursche in einer Armyjacke brüllt, man habe ihm seine Zigaretten geklaut. Susanne Peter beantwortet alle Fragen, dankt der Spenderin, beruhigt den Bestohlenen. Die meisten Klienten kennt sie mit Namen, sie kennt ihre Lebensgeschichten, ihre Meldeorte und ihre Krankheiten. Mit manchen hat sie seit Jahrzehnten zu tun; die Hoffnung, dass sie irgendwann keine Hilfe mehr brauchen werden, gibt sie trotzdem nicht auf. Rückfälle heißen bei ihr nicht Rückfälle, sondern „Ausflüge ins Gewohnte“. Obwohl sie die längstdienende Mitarbeiterin der Gruft ist, ist Susanne Peter nie deren Chefin geworden – sie wollte die direkte Arbeit mit den Klienten nicht aufgeben.

Kollegen und Vorgesetzte beschreiben Peter als „Arbeitsviech“, als praktischen Menschen, der zupackt, statt zu reden; sie loben ihre Empathie und ihr Durchhaltevermögen in einem Job, den kaum jemand länger als fünf Jahre lang aushält. Immer noch geht Peter regelmäßig in die Kirche; die Religion sei „das Grundwasser ihrer Persönlichkeit“, sagt Pater Gabriel. Aber ihr Theologiestudium brach sie bald ab: zu theoretisch. Stattdessen machte sie eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin, später noch eine zur Psychotherapeutin.

Was hat sich verändert in den 26 Jahren, in denen Susanne Peter sich nun um Obdachlose kümmert? Vor allem ihre Klientel. „Den Rauschebartobdachlosen“, sagt Peter, „gibt es kaum noch.“ Dafür viele ehemalige Selbstständige, psychisch Kranke: „Die Depressionen werden immer mehr, das hat mit der Leistungsgesellschaft zu tun.“

Den gepflegten Mann mit der eckigen Brille, der sich jetzt auf den Sessel neben Peters Schreibtisch wirft, könnte man für einen ihrer Kollegen halten. Aber er ist ein Klient, Alkoholiker, nach zehn Jahren hat er sich zu einer Therapie durchgerungen. Peter bespricht mit ihm geeignete Wohnmöglichkeiten. „Kommst du morgen zum Fußball?“, fragt sie dann. „Ja.“

Seit fast 20 Jahren hält Peter in einer Kagraner Sporthalle jeden Samstag ein Fußballtraining für ihre Klienten ab – für die Obdachlosen eine Ablenkung, für Peter ein Weg, sie besser kennenzulernen. Über das Gruft-Team hat sie auch privat den Fußball für sich entdeckt. Ihre Position: Torfrau. Wenn alle anderen ihr Bestes gegeben haben und das Unglück trotzdem nicht aufhalten konnten, dann macht Susanne Peter noch einen letzten Versuch, die Partie zu retten. Ganz so wie im echten Leben.

Falter 13.2.2013

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