„Behindert hieß, du bist nichts wert“

Wurden am Steinhof Kinder gequält? Der Kinderpsychiater Max Friedrich erinnert sich

Behinderte Kinder und Jugendliche, die den ganzen Tag in Netzbetten eingesperrt oder an ihren Betten angebunden sind und jahrelang nicht ins Freie kommen. Medikamente im Brei. Körperliche und seelische Brutalität. Davon berichtete im letzten Falter die Kinderkrankenschwester Elisabeth Pohl, die in den frühen 1980er-Jahren im Kinderpavillon am Steinhof arbeitete. Max Friedrich, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Wiener Allgemeinen Krankenhaus, spricht über die Situation behinderter Kinder in den 1980ern.

Herr Friedrich, haben Sie die Schilderungen von Elisabeth Pohl überrascht?

Nein. Ich bin 1973 von der Erwachsenen- auf die Kinderpsychiatrie umgestiegen und mein damaliger Chef an der Uniklinik hat mir erlaubt, mehrere Kliniken zu beobachten. Da habe ich auch – angemeldet – zwei Tage in der Einrichtung für behinderte Kinder am Steinhof verbracht. Die Patienten, die ich dort gesehen habe, waren in einem beklagenswerten Zustand. Ich habe keine verschmutzten oder gefesselten Kinder gesehen und kein feindliches Klima erlebt, nur muss man bedenken: Ich war ein junger Arzt, und allen war klar, der kommt von der Uniklinik, wer weiß, was der in Wirklichkeit kontrolliert. Ich bin zu meinem Chef zurückgegangen und habe gesagt: „Das kann es ja nicht geben, so kann man Menschen nicht betreuen.“

Wie hat Ihr Chef reagiert?

Er hatte so etwas geahnt, aber er wusste auch nicht, wo man diese Kinder unterbringen könnte. Ich glaube, dass man die Augen davor zugemacht hat. Es wurde ausgeblendet, dass wir Menschen unter uns haben, die schwerstbehindert sind und sonderpädagogischen Bedarf haben. Das war ein völlig abgeschotteter Bereich.

Wie ist man abseits von Steinhof mit behinderten Kindern umgegangen?

Man hat geistig, aber auch körperlich Behinderte einfach versteckt. Behindert hat geheißen, du bist nichts wert. Meinem Dafürhalten nach lag das an einer Ideologie, die aus den 30er-Jahren überlebt hat, bei der es um die „Reinigung der Volksgesundheit“ ging.

Wann und wodurch hat sich die Situation geändert?

Ich würde sagen, erst in den späten 80er- und frühen 90er-Jahren. Wir, die 68er-Generation, haben da sehr viel bewirkt.

Wären vergleichbare Zustände heute noch in Österreich vorstellbar?

Ich hoffe nicht.

Falter, 5.6.2013

Alle Texte zum Pavillon 15 gibt es hier nachzulesen.

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