Die Ärzte im Blick

Schlampige Diagnosen, mangelnde Hygiene, schlecht ausgestattete Privatspitäler: Die Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz stellt ihren neuen Jahresbericht vor

Visite: Ruth Eisenreich

Zum Beispiel Herr W., Aktenzeichen WPPA 219438/13. An einem Dienstagmittag im Februar 2013 bringt ihn die Rettung in die Notaufnahme eines Wiener Spitals. Er hat sich zu Hause auf zwei aufeinandergestapelte Sessel gestellt, ist heruntergefallen und hat nun Schmerzen im Bauch, im Arm, in der Schulter. Der Arzt stellt fest: Das linke Schulterblatt ist gebrochen.

Dass beim Sturz außerdem Herrn W.s Milz gerissen ist, bemerkt niemand. Nicht im ersten Spital, nicht im zweiten, in das Herr W. am selben Abend wegen anhaltender Schmerzen und starker Übelkeit fährt, und zunächst auch nicht im dritten, in dem er spätnachts auftaucht. Erst am nächsten Morgen um sieben Uhr wird bei Herrn W. ein Ultraschall gemacht, der Milzriss entdeckt, eine Notoperation eingeleitet. „Er war am Rande des Todes“, sagt Sigrid Pilz. Sie ist die Patientenanwältin der Stadt Wien.

Der Fall W. ist einer jener, von denen Sigrid Pilz besonders häufig erzählt, wenn sie über ihre Arbeit spricht. Denn er zeigt, welche Folgen eine Verkettung von Unachtsamkeiten haben kann: „Die Anamnese wurde nicht ordentlich gemacht, die weiteren Ärzte haben die Erstdiagnose nicht infrage gestellt, man hat den Patienten für renitent erklärt, statt ihm zu glauben.“

Seit genau zwei Jahren steht Pilz, 56, ehemals Gesundheitssprecherin der Wiener Grünen, der Wiener Pflege-und Patientenanwaltschaft (WPPA) vor. Am Montag hat sie im Landtag ihren Bericht für das Jahr 2013 präsentiert. Wer das Dossier liest und mit Sigrid Pilz spricht, bekommt tiefe Einblicke in das Wiener Gesundheitssystem. Was funktioniert? Was läuft schief? Und woran liegt das?

„Streitbarer und öffentlicher“

Vergangener Freitag, 9.30 Uhr morgens, Orthopädisches Spital Speising. Sigrid Pilz steht im neuen Aufenthaltsraum, Zimmer 116, Krankenhausbetten auf der einen Seite, eine schwarze Ledercouch und ein paar Fauteuils auf der anderen, und lässt sich von der ärztlichen Direktorin und einem Arzt das neueste Programm des Krankenhauses erklären. Patienten sollen mit seiner Hilfe das Krankenhaus nach Operationen schneller wieder verlassen können.

Pilz hat eine energische Art, sie hört aufmerksam, mitunter etwas ungeduldig zu, stellt viele Fragen. Wie werden die Patienten nach der Entlassung betreut? Welche Ausbildung hat der Arzt, der das Programm betreut? Werden in den Patienten mit dem Programm nicht unrealistische Hoffnungen geweckt?

Wenn Sigrid Pilz in einem Krankenhaus oder einem Pflegeheim auftaucht, dann liegt das meistens an Beschwerden von Patienten. Der heutige Besuch ist eine Ausnahme, es ist ein Antrittsbesuch, denn die ärztliche Direktorin hat den Job erst vor wenigen Monaten übernommen. Also hat Pilz mit ihr grundsätzliche Fragen besprochen, es ging um Standardisierung und Qualitätsmanagement, um Spezialteams und Vergleichsstatistiken. „Sie bemüht sich sehr“, sagt Pilz später bei einem Gespräch im Garten des Krankenhauses, „wir werden uns die Ergebnisse anschauen.“

Ihren direkten Vorgänger, den pensionierten Richter Konrad Brustbauer, hat Pilz immer wieder scharf kritisiert – vor allem im Zusammenhang mit dem Psychiatrie-Untersuchungsausschuss, in dem sie als Gesundheitssprecherin der Wiener Grünen saß. Beschwerden an ihn seien „Appelle ans Salzamt“, schrieb sie damals, er agiere als „Anwalt der Beschwichtigung“. Sie selbst will ihre Rolle nun anders, nämlich „streitbarer und öffentlicher“ auslegen als er, der sich eher als sanfter Vermittler sah.

3685 Akten

Konfliktscheu dürfte Pilz schon als junge Frau nicht gewesen sein: Nach dem Studium leitete die promovierte Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin ein Innsbrucker Jugendzentrum, bevor sie Chefin der Abteilung für internationale Familien-und Jugendpolitik im Wirtschafts-und Familienministerium wurde. Sie lehrte an der Universität, moderierte den „Club 2“ und zog 2001 für die Grünen in den Wiener Gemeinderat ein, wo sie neben der Untersuchungskommission zu den Psychiatrien auch eine zu den Zuständen in den Pflegeheimen anstieß. Das Gemeinderatsmandat legte sie zurück, als sie den Job als Patientenanwältin antrat.

3685 neue Akten haben Pilz und ihr Team im Jahr 2013 angelegt. Klagen über zu lange Wartezeiten oder unfreundliches Verhalten von Ärzten und Pflegern waren darunter, Fragen zu Rezeptgebühren oder Arzthonoraren, zur Patientenverfügung oder zu Sachwalterschaften, aber auch über tausend Beschwerden über vermutete Behandlungsfehler. 202 Patienten haben bereits eine Entschädigung bekommen, 502 wurden abgewiesen, 458 Fälle sind noch nicht abgeschlossen.

Einige der Fälle, die im Bericht geschildert werden, sind haarsträubend. Aber die Patientenanwältin geht mit Schuldzuweisungen vorsichtig um. „Ich halte nichts vom Zugang über Angstmache. Es kann immer was passieren, und es muss auch etwas riskiert werden können in der Medizin“, sagt sie. „Keiner kann sich eine Entwicklung wie in den USA wünschen, wo manche Sachen aus Angst vor der Haftung nicht mehr gemacht werden.“

Wenn etwas schiefgeht, versucht Pilz, für den Patienten eine Entschädigung zu erreichen -und herauszufinden, welche strukturellen Probleme hinter dem Fall liegen. „Mich interessieren Fehler dort, wo sie aus systemischen Gründen zusammenkommen“, sagt sie.

Jahrzehntelanges Wegschauen

Da ist etwa der Fall einer Wiener Allgemeinmedizinerin, der im vergangenen Jahr für Empörung sorgte, Aktenzahl WPPA 325580/13. Die Frau hatte in ihrer Ordination jahrelang billige Abtreibungen angeboten, immer wieder kam es dabei zu schweren Komplikationen. Pilz‘ Bericht zufolge gab es allein in den Jahren 2008 bis 2012 in ihrer Ordination 17 Einsätze der Rettung.

„Aufgrund hygienischer Mängel, nicht entsprechender elektrotechnischer Ausstattung, unzureichender Patientinnenüberwachung und veralteter medizinischer Methoden“ sei die Ordination immer wieder gesperrt worden, heißt es in dem Bericht: „Zu weiterreichenden Konsequenzen für die Medizinerin führten diese Überprüfungen in all den Jahren aber nicht.“ Ganz im Gegenteil: Die Praxis der Ärztin erhielt das umfassende „Qualitätszertifikat“ für niedergelassene Ärztinnen und Ärzte.

Für Pilz ein gutes Beispiel dafür, was im niedergelassenen Bereich falsch läuft: „In den Spitälern gibt es mittlerweile ein Bewusstsein. Im niedergelassenen Bereich ist Wüste. In diesem Fall hat einfach jahrzehntelang niemand hingeschaut.“

Die Überprüfung der niedergelassenen Ärzte erfolgt mittels Selbstevaluierung durch die Österreichische Gesellschaft für Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement in der Medizin (ÖQMed).“Die Ärzte bekommen einmal in fünf Jahren Fragebögen und beurteilen sich selbst, ob sie es eh supi machen. Nur bei sieben Prozent kommen Kontrollbesuche -na, das Risiko trägt man“, sagt Pilz.

Bei der Kontrolle werde außerdem auf die falschen Dinge geachtet: „Die überprüfen nicht das Fehlermanagement und ob auf dem Stand der Wissenschaft gearbeitet wird, sondern ob die Ordi barrierefrei ist und ob die Öffnungszeiten übereinstimmen mit dem, was man angeschrieben hat.“

Maniküre statt Intensivstation

Da ist auch der Fall Werner S., Aktenzahl WPPA 148774/12. Im Juni 2011 ließ sich S., damals 68, in einer Wiener Privatklinik an der Wirbelsäule operieren. „Davor ist er wegen seiner Schmerzen schon im Rollstuhl gesessen“, erzählt seine Frau Gabriele heute. „Unser Worst-Case-Szenario war, dass er das danach auch tut, aber ohne Schmerzen.“

S. sitzt in einem aufgeräumten Zweibettzimmer in einem der Pavillons des Otto-Wagner-Spitals auf der Baumgartner Höhe, das monotone Summen von medizinischen Geräten ist zu hören, es riecht nach Chemie. In einem der beiden Krankenhausbetten liegt ihr Mann, soeben hat sie seine zwei Stunden dauernde Morgentoilette beendet. Er ist nach der Wirbelsäulenoperation nie wieder aufgewacht. Seit drei Jahren liegt er im Wachkoma, seine Frau ist in dieser Zeit zu einer Pflegeexpertin geworden.

Dass es so weit kam, liegt auch an der mangelhaften Ausstattung der Privatspitäler, sagt Pilz. „Die Broschüre der Privatkrankenanstalten ist aufgebaut wie ein Hotelführer“, sagt sie. „Da gibt es Maniküre, Pediküre, Friseur – aber es steht nicht drinnen, dass sie keine Intensivstation haben. Wenn es Komplikationen gibt, müssen sie die Patienten in öffentliche Spitäler transferieren.“

So war es auch bei Werner S. „Wir sind nie auf die Idee gekommen zu hinterfragen, wie Privatkrankenhäuser ausgestattet sind“, sagt seine Frau. Bei der Operation gab es Komplikationen, Herz und Kreislauf setzten aus. Schon dafür waren ärztliche Fehler verantwortlich, stellt ein Gutachten fest, das später im Auftrag der Versicherung erstellt wurde.

S. wurde erfolgreich reanimiert, die Operation beendet, der Patient im Aufwachraum der Privatklinik beobachtet. Er „war nicht ansprechbar, reagierte kaum auf Schmerzreize“, heißt es im Gutachten; trotzdem wurde er erst nach sechs Stunden ins SMZ Ost gebracht, wo er weiterbehandelt wurde. Da war es schon zu spät. Wäre S. früher auf eine Intensivstation verlegt worden, lässt sich aus dem Gutachten schließen, läge er heute vielleicht nicht im Wachkoma.

Hände waschen? Nie!

Versagen gibt es aber nicht nur bei komplexen Operationen. Manchmal entstehen Fehler auch, weil Ärzte die grundlegendsten Verhaltensregeln ihrer Zunft missachten. „Dass man den Patienten verwechselt oder das linke anstelle des rechten Knies operiert, das kommt zum Glück selten vor“, sagt Pilz: „Die häufigste Fehlerquelle ist das Alltagshandeln.“

Etwa im Fall jenes Oberarztes, den Pilz auf seine Einladung hin bei der Visite begleitete. „Er hat mir die Hand gegeben, ein Kind im Mund untersucht, sich das entzündete Auge einer Frau angesehen und dann einer Mutter gezeigt, wie sie die Narbe im Mund ihres Babys massieren soll“, erzählt Pilz: „Und das alles, ohne sich dazwischen auch nur ein einziges Mal die Hände zu desinfizieren.“

Pilz war schockiert, wollte das Thema aber nicht vor den Patienten ansprechen. Stattdessen schrieb sie dem Oberarzt ein E-Mail. Seine Antwort: „Ich wasche mir in der Ambulanz nie die Hände.“ Pilz benachrichtigte daraufhin die Chefs des Arztes, sie führten ein Gespräch mit ihm.

Wie kann es überhaupt passieren, dass sich im 21. Jahrhundert ein Arzt die Hände weder wäscht noch desinfiziert? „Es muss schon mit dem Arbeitsdruck zu tun haben“, vermutet Pilz. „Niemand will dem Patienten schaden, sondern es gibt eine Kultur des Schlendrians und der Sorglosigkeit. Immer innezuhalten und sich die Hände zu waschen hält auf.“ Dazu kämen die starken Hierarchien in den Spitälern, die keine „Kultur der Fehlerrückmeldung“ ermöglichten, und die fehlenden Sanktionsmöglichkeiten gegen uneinsichtige Ärzte.

Gefordert sind für Pilz aber nicht nur Ärzte und Krankenhäuser, sondern auch die Patienten. Ihre Gesundheitskompetenz und ihr Selbstbewusstsein zu stärken gehört für Pilz zum Job des Patientenanwalts. „Ich habe in dem Moment, wo es passiert ist, gemerkt, dass es ein Fehler ist“, habe ihr einmal ein Patient erzählt, „aber ich habe mich nicht getraut, etwas zu sagen.“ Das, sagt Pilz, sei das schlimmste Erlebnis ihrer Amtszeit gewesen.

Pilz wünscht sich, dass Patienten sich zu Wort melden, wenn ihnen etwas seltsam vorkommt – und dass sie dann auch ernst genommen werden. Die Milz von Herrn W. etwa hätte nach seinem Sturz wohl auf jeden Fall entfernt werden müssen. Aber hätten die Ärzte seinen Klagen Beachtung geschenkt, statt ihn als nervigen Störenfried zu betrachten, hätten sie ihm einen Tag des Leidens, eine Odyssee durch drei Spitäler und eine Notoperation erspart.

Falter, 2.7.2014

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