Geliebter Landesvater, verhasster Despot

Der Auftritt des türkischen Premiers Erdoğan polarisiert. Wir haben einen Fan und eine Gegnerin begleitet

Doppelporträt: Rusen Timur Aksak, Ruth Eisenreich

Liebe ist ein großes Wort. Harun Caliskan verwendet es trotzdem, wenn er über Politik spricht: „Ich liebe Erdoğan“, sagt er. Seit Stunden steht Caliskan, 38, deshalb in der prallen Sonne vor der Albert-Schultz-Halle in Wien-Donaustadt. Er wartet auf den türkischen Ministerpräsidenten, seinen Helden.

Für Hülya Tektaş, 34, ist Erdoğan kein Held, sondern ein Despot. Deshalb steht sie zur gleichen Zeit knapp fünf Kilometer von Caliskan entfernt im kleinen Park am Praterstern. Auf dem gelben Rasen sammeln sich die Teilnehmer der Anti-Erdoğan-Demonstration, auf einer Bühne werden die Unterstützerorganisationen verlesen. Alevitische und kurdische Verbände sind dabei, die Kommunistische Partei der Türkei, die Sozialistische Jugend, die Linkswende.

Es ist Donnerstag vergangener Woche, 14.30 Uhr, und halb Wien steht im Zeichen des bevorstehenden Auftritts von Recep Tayyip Erdoğan. Der Besuch des türkischen Ministerpräsidenten füllt Titelseiten und TV-Diskussionen, bringt den Verkehr in Teilen der Stadt zum Erliegen und Politiker aller Parteien auf die Palme.

Anfang 2008 nannte Erdoğan in einer Rede in Köln die Assimilation von Einwanderern ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Erdoğan könne „einen Spalt in unsere Gesellschaft treiben“, fürchtete deswegen etwa Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) vor dem Auftritt; er habe „uns das Identitätsthema noch schwieriger gemacht“, sah er sich am nächsten Tag bestätigt.

Zu dem „Privatbesuch“ eingeladen wurde Erdoğan von der seiner Partei AKP nahestehenden Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD). Offiziell ist er hier, um deren zehnjähriges Bestehen zu feiern; inoffiziell, um unter den 115.000 in Österreich lebenden türkischen Staatsbürgern um Stimmen für die Präsidentschaftswahlen im August zu werben. Ende Mai absolvierte er einen ähnlichen Auftritt in Köln, von Wien fliegt er weiter ins französische Lyon.

In Europa gilt Erdoğan spätestens seit der brutalen Niederschlagung der Gezi-Proteste vor einem Jahr als Despot. Unter türkischstämmigen Menschen polarisiert er, für oder gegen ihn, etwas anderes gibt es kaum. Das zeigen schon die Zahlen: 75.000 Menschen, die türkische Staatsbürger oder in der Türkei geboren sind, leben in Wien, insgesamt 22.000 besuchten laut Polizei den Erdoğan-Auftritt und die beiden Gegendemos.

Oft war in diesem Zusammenhang von einer „Spaltung der türkischen Community“ die Rede. Aber die 13.500 Erdoğan-Fans, die 8000 Gegner: Das sind keine einheitlichen Blöcke. In beiden Gruppen gibt es unterschiedliche Lebensgeschichten, unterschiedliche Weltbilder, unterschiedliche Gründe, Erdoğan zu mögen oder abzulehnen. Hülya Tektaş und Harun Caliskan sind nur zwei der 22.000, sie repräsentieren nicht „die Türken“. Trotzdem kann, wer beide einige Stunden lang begleitet, viel lernen.

Etwa, wie kompliziert eine Identität aufgebaut sein kann. Oder wie wichtig das Gefühl ist, gehört zu werden.

Hülya Tektaş ist in Istanbul geboren und aufgewachsen, ihre Muttersprache ist Türkisch, trotzdem würde sie sich nie als Türkin bezeichnen. „Eine Kurdin, die in Wien lebt“, sagt sie, wenn man sie nach einer Eigendefinition fragt. Dabei spricht sie kaum Kurdisch und kennt die Kurdengebiete nur von Reisen. Mit 14 Jahren kam Tektaş mit ihrer Familie nach Perg in Oberösterreich, zog später zum Studium nach Wien, tauschte mit Anfang 20 die türkische gegen die österreichische Staatsbürgerschaft; es war eine leichte Entscheidung.

Harun Caliskan ist türkischer Staatsbürger, sagt aber, er sehe sich als Deutscher. Dabei hat er nur kurz in Ratingen nahe Düsseldorf gelebt. Nach seinem ersten Schuljahr zogen seine Eltern, die als Gastarbeiter gekommen waren, mit seiner Schwester und ihm ins zentraltürkische Nevşehir. Sein Deutsch vergaß er; vor drei Jahren holte ihn seine Frau nach Wien, wo er die Sprache nun neu lernt. In Österreich, sagt er, fühle er sich wohl, er sei ein vorbildlicher Bürger.

Es ist 15 Uhr, die Demo hat sich in Bewegung gesetzt. Slogans wie „Faschist Erdoğan“ ertönen, auf einem Plakat ist Erdoğan mit Hitlerbart zu sehen, auf einem anderen mit blutbefleckten Dollarscheinen. Tektaş und ihre Freunde marschieren im losen kurdischen Block mit. Immer wieder treffen sie Bekannte, auch die Grün-Abgeordnete Aygül Berîvan Aslan, die erste Kurdin im österreichischen Parlament, ist dabei.

Um Tektaş herum wehen gelbe Fahnen mit Porträts des seit 15 Jahren inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan; „Lang lebe Apo“, rufen die Demonstranten auf Kurdisch. Apo bedeute „Onkel“ und stehe kurz für Abdullah, erklärt Tektaş. Hinter den Kurden marschieren Armenier, mit rot-blau-orangen Fahnen und Schildern, die auf den Genozid von 1915 verweisen. Von irgendwo erklingt die Internationale.

Einige Kilometer weiter sollte Erdoğans Rede schon in vollem Gang sein, doch noch regt sich wenig außer den Gemütern der Wartenden. Viele beschweren sich über das Organisationschaos, gellende Pfeifkonzerte brechen aus. Die UETD verteilt Schildkappen mit Logo, auch Caliskan greift zu.

Er wisse wenig über Politik, sagt er. Aber dank Erdoğan müssten Menschen wie er, die aus Anatolien in die türkischen Großstädte oder ins Ausland abwanderten, sich nicht mehr schämen für das, was sie sind. „Wir waren Stiefkinder, sowohl hier in Österreich als auch in der Türkei. Jetzt sind wir das nicht mehr.“ Sebastian Kurz‘ Kritik an Erdoğans Auftritt drückt für ihn fehlenden Respekt der gesamten Türkei gegenüber aus. Viele Besucher, glaubt er, seien auch aus Protest gegen Kurz hier.

Caliskan wirkt ekstatisch, wenn er über den wirtschaftlichen Erfolg der Türkei redet, davon, dass sie nicht mehr vom Internationalen Währungsfonds abhängig sei, sondern diesem sogar Geld zur Verfügung stelle -es ist eine beliebte Anekdote Erdoğans. Nur zwei Stunden am Tag schlafe der Premier, schwärmt Caliskan, sonst arbeite er zum Wohle des Volkes. Und die Kritik an der Korruption in Erdoğans Umfeld, an seinem autoritären Stil, an der Niederschlagung der Gezi-Proteste?“Alles Lügen.“

So oft, wie Caliskan beim Thema Politik das Wort „Liebe“ verwendet, so oft spricht Tektaş von den Kurden. „Erdoğan hat Friedensverhandlungen begonnen, aber seither nichts mehr für die Kurden getan“, sagt sie. Zudem sei er autoritär und herrschsüchtig, und er betreibe eine „Neoliberalisierung ohne Rücksicht auf die Verlierer“.

Kurz vor 16 Uhr ist am Beginn der Reichsbrücke auffällig viel Polizei zu sehen, ein Hubschrauber kreist über den Köpfen der Demonstranten. Bei einem Kebablokal gab es eine Auseinandersetzung zwischen Erdoğan-Fans und -Gegnern, Polizisten schritten ein. Davon und von ein paar Schreiduellen abgesehen verläuft die Demo ruhig.

Schwarze Särge werden vorbeigetragen, „Gezi“ steht auf einem, „Soma“ auf einem anderen – Orte von Todesfällen, an denen die türkische Regierung Mitschuld tragen soll. Ein paar Meter von Tektaş entfernt geht ein Mann mit Baschar-al-Assad-Shirt – er sei Armenier aus Syrien, erklärt er seine Anwesenheit, und wenn Erdoğan nicht Terroristen nach Syrien schleusen würde, gäbe es dort keinen Bürgerkrieg.

Auf dem Parkplatz vor der Albert-Schultz-Halle geht zur gleichen Zeit plötzlich alles ganz schnell. Die Fans bewegen sich zur Videoleinwand, auf der nun Erdoğan erscheint; die Müdigkeit weicht aus den Gesichtern. Erdoğan grüßt die Menge „von 77 Millionen Bürgern der Türkei“, er spricht von der wirtschaftlichen Stärke des Landes und davon, dass die Zuhörer „auf diese Türkei stolz sein“ könnten.

Die Menschen um Caliskan weinen, jubeln, skandieren. Caliskan selbst tut nichts dergleichen: Kerzengerade steht er da, blickt starr und konzentriert auf die Leinwand. Er wirkt wie ein Fels, an dem jeder Zweifel an seinem Idol zerbrechen muss.

Caliskan war bis Dezember Lagerarbeiter, dann wurden er und mehrere Kollegen gekündigt. Jetzt ist er arbeitslos und nützt die Zeit für einen Deutschkurs. Als junger Mann hätte er gern studiert, blieb dann aber nach dem Hauptschulabschluss doch im Dorf, um den Eltern am Hof zu helfen. Sie hatten in Deutschland als Schweißer bei Mercedes und als Putzfrau gearbeitet; nach ihrer Rückkehr führten sie einen Eissalon, übernahmen später den kleinen Hof mit Hühnern und Kühen. Caliskan erinnert sich gern an diese Zeit. Finanzielle Probleme, sagt er, habe die Familie nie gehabt.

Tektaş hingegen erinnert sich mit Grauen an ihr erstes österreichisches Zuhause. „Ein Minihaus mit Schimmel“, erzählt sie, „im Winter war der Boden nass.“ Der Raum, in dem Tektaş und ihre beiden Geschwister schliefen, diente auch als Wohnzimmer.

„Die erste Zeit in Österreich war ganz, ganz schwierig“, sagt Tektaş. In Perg gab es keine Deutschkurse für die 14-Jährige, in der Schule fühlte sie sich als Außenseiterin. „Ich habe damals nicht die Hoffnung gehabt, dass ich je ein Teil dieser Gesellschaft sein werde. Das hat mich fertiggemacht.“

Der Wendepunkt kam, als die Tochter eines Bauarbeiters und einer Hausfrau zum Studium nach Wien zog. „Hier war mein Akzent nicht mehr so wichtig“, sagt sie. „Früher habe ich wegen ihm ungern gesprochen.“ Heute schreibt Tektaş neben ihrer Arbeit als Sozialberaterin gelegentlich Artikel für den Augustin und die Wiener Zeitung. Man merkt schnell, wie wichtig es für sie ist, sich auf diese Weise ausdrücken zu können und gehört zu werden.

Es ist 17 Uhr, die Rede in der Albert-Schultz-Halle ist beendet, als über den Parkplatz eine Durchsage schallt: Erdoğan werde noch kurz auf der kleinen Bühne vor der Halle auftreten. Die Fans jubeln, der bis dahin so ruhige Caliskan vergisst alles um sich herum, geht schnellen Schrittes in den Pulk vor ihm und verschwindet in der Menge.

Wenig später trifft die Demo beim Donauzentrum ein, nur noch 500 Meter sind Tektaş und Caliskan voneinander entfernt. Auch hier steht eine Bühne, doch kaum jemand hört den Rednern zu. Tektaş‘ Freunde lassen, auf dem Sockel eines Brückenpfeilers sitzend, den Tag Revue passieren.

In ihrer Arbeit als Sozialberaterin hat Tektaş oft mit Erdoğan-Wählern zu tun. Sie verstehe deren Beweggründe seither etwas besser, sagt sie: „Es ist klischeehaft, aber sie fühlen sich hier als Außenseiter, und Erdoğan mit seinem Stolz auf das ‚Türkentum‘ gibt ihnen Selbstbewusstsein.“

Caliskan sieht das gar nicht so anders. Erdoğan habe Menschen wie ihm eine Stimme gegeben, sagt er, bevor er in der Menge verschwindet: „In Österreich fühle ich mich sprachlos.“ Viele der Menschen um ihn, die dem Gespräch zugehört haben, nicken zustimmend.

Falter, 25.6.2014

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