Bis in die 1980er-Jahre wurden in Wien behinderte Kinder gequält. Der Zeitzeuge und Psychiater Ernst Berger sucht nach Erklärungen
Behinderte Kinder wurden geschlagen, in Zwangsjacken gesteckt, mit Beruhigungsmitteln niedergespritzt, im eigenen Kot liegengelassen: Im Pavillon 15 am Steinhof, dem heutigen Otto-Wagner-Spital, war das bis in die 1980er-Jahre hinein Alltag. Nachdem die Krankenschwester Elisabeth Pohl im Falter von diesen Zuständen erzählt hatte, untersuchte eine Arbeitsgruppe der Stadt Wien die Vorwürfe. Doch ihr Untersuchungsbericht bleibt geheim. Der Kinderpsychiater Ernst Berger erklärt, wie es zu Situationen wie der im Pavillon 15 kommen konnte.
Falter: Herr Berger, im Bericht der Arbeitsgruppe steht, im Pavillon 15 hätten die damals „üblichen Betreuungsund Behandlungsmethoden“ geherrscht. Sie haben in den 1970er-Jahren in der Kinderpsychiatrie des AKH gearbeitet. Wie sah es dort aus?
Ernst Berger: Universitätskliniken unterscheiden sich von der städtischen Standardversorgung immer durch eine höhere Personaldichte und ein höheres Reflexionsniveau, das ist auch heute noch so. Wir sind 1974 ins neue AKH übersiedelt. Dort gab es zwei Stationen mit je 16 psychisch kranken oder behinderten Kindern. Es gab Dreibettzimmer und auf jeder Station neben dem leitenden Oberarzt einen Assistenten, zumindest eine Psychologin, dazu Pädagogen, Pflegepersonal, Logopädinnen, Physiotherapie. Und wir hatten eine andere Betreuungsideologie.
Wie haben die Kinder dort den Tag verbracht?
Tagsüber sind sie direkt auf der Station in die Heilstättenschule gegangen. Wenn sie nicht in der Schule waren, wurden sie von Pflegemitarbeiterinnen und Pädagoginnen gemeinsam betreut. Sie hatten Psychotherapie, haben Besuche von ihren Eltern bekommen und konnten aus dem Haus hinausgehen.
Waren Sie je im Pavillon 15?
Ich war einmal dort zu Besuch, 1974 oder 75. Ich habe dort geflieste Räume gesehen, in denen schwerbehinderte Kinder auf dem Boden gelegen sind. Betreuungspersonal gab es drinnen nicht, die Kinder wurden aufbewahrt. Die Räume waren gefliest, damit man zum Reinigen einfach mit dem Schlauch hineinspritzen konnte. Das waren unmenschliche Bedingungen, ein meilenweiter Unterschied zum AKH.
Wer trug die Verantwortung für diese Zustände? Der ärztliche Direktor Wilhelm Solms? Gesundheitsstadtrat Alois Stacher?
Man kann die Verantwortung nicht personell festzumachen. Der Herr Solms ist bei der Reform dieses Systems nicht gerade an der Spitze gestanden. Der Loisl Stacher hatte mit der Psychiatrie nichts am Hut, aber als in den 70er-Jahren dieser Umdenkprozess begonnen hat, hat er das Thema sehr rasch aufgegriffen und im Gemeinderat den Beschluss zur Psychiatriereform durchgebracht. Das ist ihm hoch anzurechnen, denn es war nicht so, dass ihm alle applaudiert hätten. Er ist auf viele Widerstände gestoßen.
Wenn nicht die handelnden Personen das Problem waren – was war es dann?
Die Vorstellungen und Realitäten von Betreuung und Behandlung hilfsbedürftiger Menschen waren damals tatsächlich völlig anders als heute. Der Steinhof war nicht als Spital, sondern als „Heil- und Pflegeanstalt“ definiert und hat deshalb viel niedrigere Tagsätze bekommen. Er war massiv unterfinanziert. Auch der Personalschlüssel für Pflegeanstalten war viel schlechter als der für Krankenhäuser. Insofern hat die Frau Stadträtin schon recht, wenn sie sagt, dass Steinhof keine Ausnahme war – aber „Das war überall so“ ist eine flapsige Verniedlichung, die absolut fehl am Platz ist.
Wurden die Zustände in Behinderteneinrichtungen in den 1970er und 80er Jahren öffentlich diskutiert?
Das hat niemanden interessiert. Behinderte Menschen wurden damals noch aus dem öffentlichen Leben abgeschoben, Hauptsache, man hat sie nicht gesehen. Ich bin in den 60er Jahren in Kagran aufgewachsen, in meinem Lebensumfeld gab es nur einen einzigen behinderten Menschen. Das war ein geistig behinderter junger Mann, den ich beim Fenster oben herauswinken gesehen habe, wenn ich mit meiner Mutter einkaufen war. Die Behinderten waren alle in Institutionen.
Woher kam dieses Desinteresse?
Das Grundmodell, das der Psychiatrie in der NS-Zeit – aber auch schon zuvor, das war keine Erfindung der Nazis – zugrunde lag, hat fortgewirkt: das biologistische Denken, also die Annahme, dass biologische Faktoren das Entscheidende im menschlichen Dasein sind. Wenn man so denkt, ist es nicht sehr weit zu dieser Art von Behandlung. Das Problem ist, dass 1945 zwar das politische System geändert, aber dieser Diskurs nicht geführt wurde.
Wieweit gab es am Steinhof personelle Kontinuitäten zur NS-Zeit?
Neben dem NS-Arzt Heinrich Gross, der kurze Zeit außer Dienst gestellt wurde und dann Primar geworden ist, gab es auch bei den Pflegemitarbeiterinnen Kontinuitäten, genauso wie im Jugendamt. Vor allem aber hat sich das Denken der Menschen über Behinderte ja nicht 1945 geändert. Die Mehrheit in dieser Stadt fand es ja bis 1945 richtig, dass man die umgebracht hat.
Zur Person:
Ernst Berger ist Kinderpsychiater. Von 1990 bis 2007 war er Primar im Krankenhaus Rosenhügel
Falter, 24.09.2014