Das größte Tabu im Leistungssport

Als junge Skirennfahrerin wurde Nicola Werdenigg von Funktionären und Teamkollegen vergewaltigt und bedrängt. Mehr als 40 Jahre schwieg sie – dann trat sie eine Lawine los

Zwei Mal wurde Nicola Werdenigg berühmt. Das erste Mal, als sie 1975 österreichische Meisterin in der Ski-Abfahrt wurde und 1976 Olympia-Vierte. Das zweite Mal, als sie im November 2017, auf dem Höhepunkt der #MeToo-Debatte, in einer großen österreichischen Tageszeitung  über die Vergewaltigungen und sexuellen Belästigungen sprach, die sie und andere junge Skirennläufer*innen in den 1970er-Jahren durch Funktionäre und Mannschaftskollegen erleben mussten. Der Artikel schockierte die Skination Österreich, die Denkmale diverser Nationalhelden begannen zu wackeln. Und Werdenigg wurde zur Institution im Kampf gegen Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt im Sport.

Die Szenen, die sie schilderte, sind drastisch. Werdenigg erzählte vom Teamkollegen, der sie mit 16 betrunken machte und vergewaltigte, vom Heimleiter, der Jungen missbrauchte, vom Rennläufer, der eine Kollegin bei ihrem ersten Geschlechtsverkehr filmte und das Video der gesamten Mannschaft präsentierte: „Ihm ist gar nichts passiert, sie hat sich zu Tode geschämt und den Sport geschmissen.“

Der Präsident des mächtigen Österreichischen Skiverbands (ÖSV) reagierte verärgert. Er drohte Werdenigg mit einem Anwalt, erklärte dann, er würde sich mit einer Entschuldigung zufriedengeben – von Werdenigg, nicht von den mutmaßlichen Tätern. Schließlich setzte der ÖSV eine interne Kommission ein, die zum Schluss kam, es gebe „Einzelfälle und Einzeltäter“, aber „keine Strukturen, die systematisch sexualisierte Gewalt fördern“.

Gleichzeitig allerdings wurden immer mehr solcher „Einzelfälle“ bekannt. Schon zuvor erhobene Vergewaltigungsvorwürfe gegen die 2009 verstorbene Ski-Legende Toni Sailer, dreifacher Olympia-Gewinner, kamen erneut ans Tageslicht und wurden durch neue ergänzt: Eine Frau erzählte dem „Spiegel“, Sailer habe sie 1975 als 14-Jährige vergewaltigt. Zwei ehemalige Rennläuferinnen erhoben Missbrauchsvorwürfe gegen den ehemaligen ÖSV-Cheftrainer Karl Kahr.

Vor allem aber meldeten sich bei Nicola Werdenigg plötzlich Dutzende Sportler*innen aus verschiedensten Bereichen, um ihr von ihren Erlebnissen zu erzählen. Sie habe nie geplant, sexuelle Gewalt zu ihrem Lebensthema zu machen, sagt Werdenigg, 61. Sie habe eine Diskussion in Gang setzen, andere ermutigen wollen – „aber mir wurde bald klar: Ich bin jetzt die Anlaufstelle, ich habe die Chance, für mehr Gerechtigkeit zu kämpfen.“ Im Januar 2018 gründete sie deshalb mit einer Psychologin den Verein „#WeTogether“. Betroffene können sich dort melden und werden an Opfereinrichtungen wie den „Weißen Ring“ weitervermittelt. Außerdem arbeiten die beiden Aktivistinnen an neuen Präventionsmaßnahmen und kämpfen dafür, dass in Österreich wissenschaftlich untersucht wird, wie weit verbreitet sexuelle Gewalt im Sport eigentlich ist. Für den deutschen Sport liegt eine solche Studie bereits vor, in Österreich jedoch sei das Projekt vom ehemaligen Sportminister Heinz-Christian Strache blockiert worden, der im Mai 2019 über die Ibiza-Affäre stolperte.

Bis heute bekomme sie ein bis zwei Anrufe pro Woche, sagt Werdenigg. Inzwischen wisse sie von rund 120 Fällen von sexueller, physischer oder psychischer Gewalt im österreichischen Sport. Zu den prominentesten gehört der Fall des zweifachen Judo-Olympiasiegers Peter Seisenbacher, der im Dezember 2019 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Er soll als Judo-Trainer zwei Mädchen missbraucht und ein drittes bedrängt haben.

Manche Fälle, die bei Werdenigg landen, betreffen Kinder, andere erwachsene Frauen; einige reichen Jahrzehnte zurück, die meisten stammen aus den letzten 20 Jahren. „Leute, die noch im Sport aktiv sind, melden sich aber höchst selten“, sagt Werdenigg. Aus Sorge um die weitere Karriere, aber auch, weil sie oft noch gar nicht einordnen könnten, was ihnen da passiere. Denn im Sport sei es wie in der Familie: Die Täter seien keine Fremden, sondern Menschen, denen die Betroffenen vertrauen. Manche, die sich bei ihr meldeten, hätten jahrzehntelang an den Folgen ihres Missbrauchs gelitten. Nun hätten sie endlich mit der Aufarbeitung begonnen. Ihr größter Erfolg, sagt Werdenigg, sei, „wenn diese Menschen mich anrufen und sagen: Mir geht es jetzt gut.“

Nicola Werdenigg, 61, stammt aus einer Tiroler Skifamilie. Nach ihrer Rennlauf-Karriere arbeitete sie als Skilehrerin, erstritt die Zulassung von Frauen zur Skiführerprüfung, gründete eine Firma für individuell angefertigte Ski und eine Agentur für Online-Kommunikation. Sie ist verwitwet, hat drei Kinder und lebt in Wien.

Brigitte, 12. Februar 2020

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