Der Fall Placidus

Ein Jünger Hans Hermann Groërs stürzt sich vom Turm seines Klosters. 26 Jahre später fragt seine Schwester: Warum?

Festungsgleich liegt das Benediktinerstift Göttweig auf einem Hügel über der Wachau. Zuerst taucht ein gelber Zwiebelturm zwischen den Baumwipfeln auf, dann eine meterhohe Steinmauer. Von den Fenstern der Türme aus überblickt man Felder und Dörfer, die Donau schlängelt sich durch das Tal.

Aus einem dieser Fenster sprang vor 26 Jahren, am 2. Jänner 1986, ein junger Mann. Andreas Kubalek hieß er, mit Ordensnamen Frater Placidus. 22 Jahre alt, schwer depressiv, glühender Anhänger des pädophilen späteren Kardinals Hans Hermann Groër.

Ein Vierteljahrhundert später sitzt seine Stiefschwester Elisabeth Weidenthaler in einem Wiener Innenstadtcafé und spricht von gierigen Äbten, geheimen Konten und verschollenen Akten. Wer ihre Geschichte hört, der denkt unweigerlich an Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“.

Andreas Kubalek hatte von seinem Vater, einem Möbelhändler, knapp neun Millionen Schilling geerbt, mehrere hunderttausend Euro. In einem Testament von 1982 hatte er den Großteil seiner Mutter, einen kleineren dem Stift Göttweig vermacht.

Doch zwei Monate nach seinem Tod legt das Stift plötzlich ein neues Testament vor, datiert auf den 9. September 1985. Darin setzt Kubalek das Stift als Alleinerben ein. Ein zäher Streit um den Nachlass beginnt; als er nach zwei Jahren zu Ende geht, verlangt der Notar wegen „besonderer Schwierigkeit und außerordentlichem Zeitaufwand“ das Doppelte der üblichen Gebühr. Das Stift wird zum Alleinerben erklärt, die Mutter bekommt nur den Pflichtteil, ein Drittel des Erbes.

Die Mutter habe danach nie mehr über das Thema sprechen wollen, sagt Elisabeth Weidenthaler. Nach ihrem Tod 2010 beginnt die Stiefschwester zu recherchieren, denn ihr erscheint so einiges an den Geschehnissen und am zweiten Testament verdächtig. Auf die Rückseite eines bedruckten Zettels ist es geschrieben, in schlampiger Schrift, mehrere Wörter und Sätze sind durchgestrichen, andere nachträglich eingefügt. Auch dass das Stift das Dokument erst zwei Monate nach Kubaleks Tod vorlegte, nachdem dort ursprünglich kein Testament gefunden wurde, erscheint Weidenthaler seltsam.

Elisabeth Weidenthaler sichtet Akten, spricht mit einem Anwalt, zeigt das Testament einem Grafologen, versucht, den Arzt ihres Stiefbruders zu finden. Um ehemalige Mitbrüder Kubaleks zu treffen, fährt sie nach Salzburg, Paudorf, Jetzelsdorf. Sie stolpert über einen Rechtsstreit des Stifts, über einen prügelnden Pfarrer, über ein dem Armutsgelübde widersprechendes Privatvermögen des damaligen Abts Clemens Lashofer. Doch Antworten auf ihre Fragen findet sie nicht.

Viele Zeitzeugen sind längst tot, Abt Lashofer etwa oder der Zwettler Arzt, der Kubalek laut Totenschaubefund behandelt hat; andere, wie Lashofers Nachfolger Columban Luser, wollen von den Geschehnissen rund um Kubaleks Tod nichts mitbekommen haben. Der Nachfolger des Arztes habe dessen Akten aufgehoben, sagt Elisabeth Weidenthaler – doch die von Kubalek finde sich nicht darunter.

Der Grafologe glaubt, dass das zweite Testament tatsächlich von Andreas Kubalek stammt; er vermutet aber, dass es sich nur um einen Entwurf handelt. Dann hätte keine Absicht vorgelegen, ein Testament zu errichten – ein möglicher Anfechtungsgrund.

Auch wenn unklar ist, ob eine Anfechtung Erfolg hätte: Elisabeth Weidenthaler will nicht aufgeben. „Mein Stiefbruder war ein Opfer dieser Machenschaften“, sagt sie, „im Gegensatz zu einigen anderen hat er es nicht geschafft, dem System zu entkommen. Ich will Gerechtigkeit für ihn.“

Das Stift Göttweig erlangt in den 1990er-Jahren durch die „Affäre Groër“ traurige Berühmtheit. Jahrzehntelang hatte Kardinal Hans Hermann Groër Zöglinge sexuell missbraucht; innerhalb der Kirche war das ein offenes Geheimnis, an die Öffentlichkeit drang es erst, als sich ein Opfer 1995 an die Medien wandte. Groërs Taten führten zum Kirchenvolksbegehren und verfolgen die katholische Kirche bis heute. Auch im Fall Kubalek könnte Groër eine unschöne Rolle gespielt haben.

Seit 1975 leitet Groër inoffiziell das zu Göttweig gehörende Haus Sankt Josef in Maria Roggendorf. Er spaltet den Orden: In Maria Roggendorf lebt eine Gruppe junger Mönche, die Groër verfallen sind; vielen anderen Göttweigern hingegen ist er suspekt. „Die Persönlichkeit einzelner verschwindet“, notiert der Mönch Leopold Pfisterer kurz vor seinem Austritt in sein Tagebuch, das Hubertus Czernin in seinem „Buch Groer“ zitiert: „Groër will, dass alle ihm hörig werden.“

Der bubenhafte Andreas Kubalek gehört zur Groër-Fraktion, als „fanatischer Jünger“ bezeichnet ihn Pfisterer heute. Jünger, heißt das auch – Opfer? „Von Groërs Beuteschema her liegt die Vermutung nahe“, sagt Pfisterer.

Hans Hermann Groër war bekannt für seine Fähigkeit zur Manipulation. Er habe Kubalek seine Mutter „madig gemacht“, erzählt sein damaliger Mitbruder Hansjörg Schuh: weil sie ihren Sohn unehelich bekommen habe, weil Groër prinzipiell ein Frauenhasser gewesen sei, und auch, weil er den jungen Mann an sich binden wollte. Groërs Einfluss könnte für das zweite Testament verantwortlich sein.

Im Souvenirshop des Stifts Göttweig gibt es neben Klimt-Kitsch und Wein auch Glückwunschkarten zur Priesterweihe. Bücher werden ebenfalls verkauft, sie tragen Titel wie „Meine Seele weint“, „Zum Helfen geboren“ oder „Der Anspruch des Schweigens“.

Schweigen konnte man im Stift Göttweig wohl besser als helfen. Dass es Andreas Kubalek nicht gut ging, war ein offenes Geheimnis. Wenige Monate vor seinem Tod wechselt er von Maria Roggendorf nach Göttweig. „Groër hat ihn abgeschoben“, sagt Hansjörg Schuh, „aus Angst, dass er sich in seinem Verantwortungsbereich was antut.“

Doch auch Abt Clemens Lashofer, Leiter des Stifts Göttweig, war wohl keine geeignete Ansprechperson für einen schwer depressiven jungen Mann. Als „unsensibel“ bezeichnen ihn mehrere ehemalige Göttweiger, als „Modepuppe“ mit „barockem Auftreten“ und wenig dahinter. Hansjörg Schuh war eine Zeit lang sein Sekretär. „Abt Clemens konnte nicht wirklich zuhören und war meist frei von Mitgefühl und menschlichen Regungen“, schrieb er später in einem Brief.

Über Hans Hermann Groërs pädophile Neigungen war Lashofer angeblich schon 1985 informiert – Reaktion: offenbar keine. Andreas Kubalek soll Tage im Voraus seinen Selbstmord angekündigt haben, zwei Mönche sollen Lashofer davon erzählt haben – Reaktion: offenbar keine.

Es ist ein warmer Tag, die Sonne scheint, doch im Garten des Stifts ist außer einer Gruppe deutscher Touristen niemand zu sehen. Die Mönche lassen sich nicht im Freien blicken. Das Kloster selbst darf der Falter nicht besuchen, Abt Columban Luser schweigt ebenso wie die Erzdiözese St. Pölten, auch auf per Mail übersendete Fragen gibt es keine Antwort. Die Vögel zwitschern, doch sonst herrscht eiserne Stille hinter den hohen Mauern von Stift Göttweig.


Falter, 16.5.2012

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