Nach 13 Jahren kehrt Ute Bock in die Zohmanngasse zurück. Eine Gruppe von Nachbarn fürchtet sich vor den Flüchtlingen, die sie mitbringt
Neger“, brüllt der kleine alte Mann im grauen Anzug, als Alseny D. an ihm vorbeigeht. „Dich brauchen wir hier nicht.“ Es ist Alseny D.s erster Eindruck von seiner neuen Gegend, gerade ist er zum ersten Mal auf dem Weg zu dem Haus, in dem er ab Anfang Mai wohnen wird.Seine neuen Nachbarn kennt er noch nicht, aber sie wissen schon jetzt: Sie wollen Leute wie ihn hier nicht. Seit Monaten kampagnisieren sie, sammeln Unterschriften und schreiben Protestbriefe.Denn das Haus in der Zohmanngasse im zehnten Bezirk, in das Alseny D. einziehen wird, hat eine Vorgeschichte. Früher war es ein Gesellenheim der Stadt Wien, bis 1999 hieß die Heimleiterin Ute Bock. Sie nahm hier Menschen auf, die sonst niemand wollte, darunter mehr und mehr Flüchtlinge.
Unter den Bewohnern waren auch Dealer. Irgendwann, so berichten Anwohner, nahm das Drogenproblem überhand, auf der Straße sollen Spritzen herumgelegen sein. Die Polizei führte eine Razzia durch, die Operation Spring (siehe Marginalspalte), verhaftete dutzende Heimbewohner und stellte sackerlweise Drogen sicher.
Ute Bock wurde suspendiert; sie begann, ihr Leben Asylwerbern und Flüchtlingen zu widmen. In ihrem Vereinslokal im zweiten Bezirk betreuten sie und ihre Mitarbeiter Hilfesuchende; wer keine feste Unterkunft hatte, konnte sich bei ihr melden lassen und seine Post von ihr abholen.
Jetzt kehrt Bock in die Zohmanngasse zurück. Der Mäzen, Strabag-Boss und Ex-LiF-Politiker Hans Peter Haselsteiner hat das ehemalige Lehrlingsheim gekauft und wird es Bock zur Verfügung stellen. Anfang Mai werden Bock und ihre Beratungsstelle in das frischrenovierte und knallorange gestrichene Haus einziehen, nach und nach werden 75 Flüchtlinge folgen.
Maria Wabl ist eine jener, die den Protest gegen das Ute-Bock-Haus anführen. Sie wohnt direkt nebenan, in einem Haus mit dünnen Wänden; wer am Abend durchs Stiegenhaus geht, hört mehrere Fernseher auf einmal. Wabls Wohnzimmer ist in Altrosa gehalten, an der Wand hängt eine Pendeluhr, am Boden spielt Wabls Enkel.
„Wir sind traumatisiert, aber echt“, sagt Maria Wabl, wenn sie an die Zeit vor der Operation Spring denkt. „Einmal hast du die Buschtrommel gehört, einmal den Muezzin – und alles in Praterlautstärke.“
Ihren richtigen Namen will die Frau mit der grauen Kurzhaarfrisur nicht in der Zeitung lesen, aus Angst, dass ihr „die Asylanten“ sonst was antun könnten: „Von den Tschetschenen hat jeder ein Messer, und der Großteil geht einbrechen“, sagt sie.
Es klopft an der Tür, ein Nachbar kommt zu Besuch. Auch er will anonym bleiben, auch er fürchtet sich. Vor den „Negern“, die kriminell seien und die man noch so oft abschieben könne, „die kommen immer wieder – wie die Läuse“.
Ute Bock weiß, dass sie bei manchen ihrer neuen Nachbarn unbeliebt ist. Zweimal hat sie die Anrainer schon zu Informationsveranstaltungen geladen. Viel ist dabei nicht herausgekommen – weil die Protestierer Bock gar nicht erst zu Wort kommen ließen, sondern sie niederschrien, wie sie selbst erzählen.
Lieber hören die Menschen hier der FPÖ zu. Die war, wie so oft bei Ausländerthemen, auch in Favoriten schnell zur Stelle. Mitte April veranstaltete sie im Wirtshaus Zum Nepomuk ein paar Gassen weiter einen gutbesuchten Stammtisch, Funktionäre sprechen von „Asylanten in Designeranzügen“ und davon, dass Ute Bock „das Vergiften unserer Kinder“ akzeptiere.
Aber Alseny D. vergiftet gar keine Kinder. Der 27-Jährige lernt lieber Deutsch, ab Herbst will er an der Universität Wien Politikwissenschaft studieren. Doch für Menschen wie Maria Wabl macht das wenig Unterschied. Ihnen missfällt, dass ihre Heimat sich verändert hat.
Favoriten war immer ein ärmlicher Bezirk. Nicht weit von der Zohmanngasse ist der Wienerberg, hier arbeiteten im 19. Jahrhundert unter katastrophalen Bedingungen die „Ziegelbehm“, arme Arbeiter aus den Kronländern. Heute gibt es ein paar Blocks weiter einen Kebabstand und einen türkischen Supermarkt. Solche Veränderungen beschwören in Menschen wie Wabl Ängste hervor. Die FPÖ spricht diese Ängste gezielt an und profitiert davon: 2010 wählte jeder dritte Favoritner blau.
Wo sich vor 120 Jahren der Arzt Viktor Adler, der Begründer der österreichischen Sozialdemokratie, für osteuropäische Arbeiter einsetzte, kümmert sich heute Ute Bock um Flüchtlinge.
In ihr neues Haus werden vor allem Tschetschenen, Afghanen und Afrikaner einziehen. Ein Drittel anerkannte Flüchtlinge, zwei Drittel Asylwerber wie Alseny D. Viele von ihnen sind aus der Grundversorgung gefallen – weil ihr Asylantrag abgelehnt wurde oder auch, weil sie in ein anderes Bundesland gezogen sind.
Von jenen, die wie Alseny D. Grundversorgung bekommen, will Ute Bock 110 Euro Miete verlangen und an Hausbesitzer Hans Peter Haselsteiner weiterleiten. Das ist jene Summe, die in privaten Unterkünften lebende Asylwerber als Mietzuschuss bekommen. Dazu erhalten sie noch 180 Euro für Verpflegung, arbeiten dürfen sie nicht.
Alseny D. wohnt zurzeit im niederösterreichischen Winzendorf und fährt fünf Mal pro Woche eineinhalb Stunden lang zum Deutschkurs nach Wien. Von den 290 Euro vom Staat, ohne finanzielle Unterstützung von Ute Bock, könnte er sich die täglichen Fahrten nicht leisten. Der Umzug ins Ute-Bock-Haus ist für ihn eine Erleichterung.
D. musste seine Heimat Guinea verlassen, so erzählt er, weil er sich für eine Oppositionspartei engagierte. Seit zwei Jahren ist er in Österreich, aber sein Asylantrag ist noch nicht entschieden.
Die Vorurteile, die Menschen wie Wabl gegen ihn haben, kann Alseny D. nicht nachvollziehen. Als er als Kind das erste Mal einen Weißen sah, sei er davongelaufen, erzählt er; seine Mutter habe ihm dann erklärt, dass der Weiße auch ein Mensch sei. „Hier sagen Eltern ihren Kindern, sie sollen aufpassen“, sagt er, „die Leute schauen mich an wie ein Monster, wie ein gefährliches Tier.“
Im neuen Ute-Bock-Haus werden ausschließlich alleinstehende Männer leben – weil bei ihr sonst immer Familien bevorzugt würden, erklärt Ute Bock. Dutzende teils traumatisierte Männer in einer ungewissen Lebenssituation, die nicht arbeiten dürfen und daher den ganzen Tag kaum etwas zu tun haben, auf engstem Raum – fordert das nicht Konflikte heraus?
In Wien gebe es noch größere solche Einrichtungen, beruhigt Iraides Franz vom Fonds Soziales Wien (FSW), der für die Grundversorgung von Asylwerbern zuständig ist. Die Größe sei kein Problem, das Flüchtlingshaus Neu Albern der Diakonie etwa, in dem 128 Männer leben, funktioniere gut. „Eine Herausforderung für die Betreuung“ sei ein solches Heim dennoch.
Für die Bewohner des Ute-Bock-Hauses soll neben Bock rund um die Uhr ein zweiter Betreuer da sein. Das Betreuungsverhältnis entspricht damit etwa dem der FSW-Einrichtungen: Dort muss es mindestens einen Betreuer pro 55 Personen geben, ab 30 Bewohnern auch einen Nachtdienst.
Renate Swoboda steht auf dem Balkon ihrer Gemeindebauwohnung, raucht und schaut hinüber zum orangen Gebäude auf der anderen Straßenseite. Laut sei es früher schon oft gewesen, sagt sie. Trotzdem hat Swoboda, die wie Wabl ihren richtigen Namen nicht nennen will, nichts gegen Ute Bocks Wiederkehr.
Nach Bocks Abgang blieb das Lehrlingsheim bis 2006 bestehen, danach wurde es als Ausweichquartier für andere Einrichtungen genützt. Da sei es viel schlimmer zugegangen als unter Ute Bock, erzählt Swoboda.
„Für die ist das nur ein Vorwand, sich wichtig zu machen“, sagt sie über Wabl und ihre Mitstreiter.
Polizei und Politik nehmen die Protestierenden trotzdem ernst. Die Polizei will zumindest am Anfang verstärkt auf Streife gehen, obwohl Polizeisprecher Roman Hahslinger nicht mit einem Anstieg der Kriminalität rechnet. Das nächste Kommissariat ist sowieso nur zwei Blocks vom Ute-Bock-Haus entfernt.
Und die rot-grüne Stadtregierung will beim Abbau von Konflikten helfen, indem sie das Ute-Bock-Haus in ihr Bürgerbeteiligungsprojekt „Wiener Charta“ aufnimmt, bei dem die Wiener Regeln für ihr Zusammenleben erarbeiten sollen.
Auf dem rot-grün gestrichenen Klettergerüst im Hof des Gemeindebaus, in dem Renate Swoboda wohnt, spielen ein paar kleine Kinder, Frauen mit Kopftuch passen auf sie auf. Viele der meist älteren Leute, die hier ihre Hunde spazieren führen, denken wie Maria Wabl. „Eine Katastrophe ist das“, sagt eine blonde Frau mit Terrier. Andere, meist jüngere, wollen wie Renate Swoboda einfach abwarten. „Ich habe vor niemandem Angst“, sagt eine Frau mit Dauerwelle und Husky und hofft, dass sich die neuen Nachbarn „anständig benehmen“ werden.
Ute Bock weiß, dass nicht alle Bewohner der Zohmanngasse so unproblematisch sind wie Alseny D.: „Das sind halt Menschen“, sagt Bock, „da gibt’s nicht nur Gute.“ Aber Bock ist sicher, dass sie und ihre Mitarbeiter die weniger Guten unter Kontrolle haben werden. „Wenn die so einen Wirbel machen, dass man nicht schlafen kann, kann ja auch ich nicht schlafen“, sagt sie, „dann wehre ich mich schon.“ Und wenn jemand dealt? „Dann schmeiße ich ihn raus und zeige ihn an“, sagt Bock.
Alseny D. steht in einem kleinen Zimmer mit weißen Wänden. Mitten im Raum steht ein Kühlschrank, in der Ecke liegt eine noch in Plastik verpackte Matratze, an der Wand ein Waschbecken, ein Spiegel. In ein solches Zimmer wird D. bald einziehen. Das Haus gefällt ihm, beteuert er, aber er sieht nicht glücklich aus. Die Begegnung mit dem alten Mann geht ihm noch im Kopf herum.
„Wir werden es denen nicht leichtmachen“, hat einer der Männer im Nachbarhaus angekündigt.
Falter, 25.4.2012