Mariahilft

Die Gruft, der Jedmayer, das Aids Hilfe Haus: Die bekanntesten Sozialeinrichtungen der Stadt sind im sechsten Bezirk versammelt. Die Bezirksvorsteherin holt sie aktiv zu sich – zu schaden scheint ihr das nicht

Obdachlose. Drogensüchtige. Ex-Häftlinge. Punks. Aidskranke. Es sind Gruppen, denen die meisten Menschen im Alltag lieber nicht zu nahe kommen. „Gut, dass etwas gemacht wird“, denken viele, wenn eine neue Hilfseinrichtung geplant wird: „Aber bitte nicht vor meiner Haustür“.

„Nimby“ nennt man im englischsprachigen Raum diese Einstellung, „not in my backyard“. Sie wird zum Problem, wenn aus Angst vor aufgebrachten Anrainern kein Bürgermeister, kein Bezirksvorsteher Einrichtungen für Randgruppen aufnehmen will.

Auch in Wien versuchen die meisten Bezirksvorsteher, sich Problemgruppen vom Leib zu halten. Nur eine nicht: Renate Kaufmann, die rote Bezirksvorsteherin von Mariahilf.  „Es gibt 22 Bezirksvorsteher, die sagen, bitte nicht in meinem Bezirk. Und eine, die sagt, ja bitte“, kritisiert Gerhard Hammerer, der Chef der Mariahilfer ÖVP.

Mariahilf ist der zweitkleinste Bezirk Wiens und jener mit der dritthöchsten Bevölkerungsdichte. Wie kommt es, dass sich ausgerechnet hier, zwischen der belebten Mariahilfer Straße, dem hippen Naschmarkt und dem Gürtel, so viele so sichtbare Sozialeinrichtungen ansiedeln? Und wie schafft es die Bezirksvorsteherin trotzdem, sich seit mittlerweile zwölf Jahren an der Macht zu halten? Haben die Wähler womöglich weniger Probleme mit Randgruppen in ihrem backyard, als man glaubt?

Ein kleines Gässchen im westlichsten Teil Mariahilfs, da, wo von Hipness nicht mehr viel zu sehen ist. An einer weiß gestrichenen Ziegelmauer hängt ein Straßenschild in Frakturschrift: „Straße der Verlierer?“ steht darauf. Hinter der grünen Tür verbirgt sich der Garten des „s’Häferl“, wo man sich ursprünglich um frisch entlassene Häftlinge gekümmert hat und heute gratis Mahlzeiten ausgibt. Ahnlich wie die Notschlafstelle Gruft am anderen Ende des Bezirks nutzt das s’Häferl die Räume unter einer Kirche.

Zunächst, erzählt s’Häferl-Leiter Norbert Karvanek, ein hagerer, schwarzgekleideter Mann mit Pferdeschwanz, habe man ein Geschäftslokal im vierten Bezirk gehabt, aber dort hätten sich die Anrainer aufgeregt. Hier in Mariahilf hingegen gebe es außer beim jährlichen „Sackgassenfest“ kaum Probleme mit den Nachbarn.

Für Politiker hat Karvanek meist nur abfällige Worte übrig. Die Bezirksvorsteherin ist die Ausnahme: „Die Kaufmann ist ein Hammer“. Auch in anderen Sozialeinrichtungen schwärmt man in höchsten Tönen von ihr.

„Wenn ich sehe, da braucht ein Mensch Hilfe, dann kann ich nicht anders“, sagt Renate Kaufmann – und es klingt nicht wie eine einstudierte Floskel. Seit 2001, als Kaufmann den Bezirksvorstehersessel von der ÖVP übernahm, hat sich eine ganze Reihe von Sozialeinrichtungen in Mariahilf angesiedelt: Es gibt hier jetzt ein betreutes Wohnhaus für obdachlose und psychisch kranke Frauen, am Gürtel stehen gleich neben dem Aids Hilfe Haus das Arbeitsmarktservice für Jugendliche und die Drogenberatungsstelle Jedmayer, der Verein Neustart betreute jahrelang in Mariahilf Ex-Häftlinge. Die Punks, die seit Jahren die Ecke Mariahilfer Straße/Neubaugasse zu ihrem Wohnzimmer gemacht haben, können jetzt nur einige hundert Meter entfernt im aXXept, einem Kellerlokal mit knallbunten Wänden, essen, duschen, ihre Wäsche waschen und sich von Sozialarbeitern beraten lassen.

All diese Einrichtungen kamen in einen Bezirk, der schon einige Erfahrung mit Kämpfen hatte. An der Linken Wienzeile steht schon seit 1982 – da war Homosexualität erst seit wenigen Jahren nicht mehr strafbar – das „Lesben- und Schwulenhaus“ Rosa Lila Villa. Und in der Amtszeit des schwarzen Bezirksvorstehers Kurt Pint, zwischen 1984 und 1997, ließen sich hier mehrere Hilfsorganisationen nieder: Das Obdachlosenheim Vinzenzhaus, die Gruft, das Aids Hilfe Haus und der Ganslwirt, der Vorgänger des Jedmayer.

Pints Schuld – oder Verdienst – war das nicht: Er wehrte sich heftig gegen den Ganslwirt, die rote Stadtregierung setzte die Hilfseinrichtung für Drogensüchtige gegen seinen Willen durch. „Dem schwarzen Bezirk konnte die Stadtregierung das eher auf’s Auge drücken als einem roten“, sagt ÖVP-Bezirkschef Hammerer.

Der Ganslwirt war auch jene Sozialeinrichtung, die die heftigsten Kontroversen auslöste. Zu einer von Pint organisierten Demonstration kamen hunderte besorgte Bürger und eine Gruppe Gegendemonstranten. „Die Proteste war politisch gesteuert“, sagt der langjährige Leiter des Ganslwirts, Hans Haltmayer: „Herr Pint hat die Ängste der Bevölkerung geschürt und instrumentalisiert“. Als der Betrieb dann lief, sagt Haltmayer, „hat das Zusammenleben mit den unmittelbaren Anrainern sehr gut funktioniert. Je weiter weg die Bürger wohnten und je weniger sie wussten, was dort passiert, desto mehr Sorgen haben sie sich gemacht“.

Vor knapp einem Jahr übersiedelte der inzwischen viel zu klein gewordene Ganslwirt von der Esterhazygasse in ein großes gelbes Eckhaus am Gumpendorfer Gürtel und wurde in Jedmayer umbenannt. Anders als bei der Gründung 1990 stand nun die Bezirkschefin hinter dem Projekt: „Renate Kaufmann hat selbst gesagt, es soll wieder im sechsten Bezirk sein“, erzählt Jedmayer-Geschäftsführer Robert Öllinger. Aber ähnlich wie 1990 protestierten ÖVP und FPÖ gegen die Drogenberatungsstelle, wieder lautete der Tenor ganz in Nimby-Manier: Gut, dass es das gibt, aber warum gerade hier?

Glaubt man den Hilfsorganisationen, sind die Nimbys in Mariahilf aber gar nicht so weit verbreitet. Es gebe kaum Probleme mit den Anrainern, berichten sie. Eher noch mit den Parteien: „Die einzige Polemik gegen uns war parteipolitisch motiviert, das kam von der FPÖ“, sagt Andreas Zembaty von Neustart. Auch Schwester Maria Michaela von den Barmherzigen Schwestern, bei denen Obdachlose frühstücken können, berichtet von parteipolitisch begründeter Kritik. Von welcher Partei? Schwester Maria Michaela zögert lange, bevor sie sagt: „Von der ÖVP“.

Zumindest momentan kämpfen aber auch ÖVP und FPÖ nicht sehr eifrig gegen die Sozialeinrichtungen. Über die neueste unter ihnen, den Jedmayer, wissen ÖVP-Bezirkschef Hammerer und sein FPÖ-Kollege Hubert Grillmayer zwar viel Negatives zu berichten: Klienten würden zugedröhnt vom zu engen Gehsteig auf die Fahrbahn taumeln, dealen und Spritzen liegen lassen; kaum jemand traue sich noch, seine Kinder in den gerade erst neu gestalteten Park hinter dem Jedmayer zu schicken. Mit den anderen Sozialeinrichtungen scheinen ÖVP und FPÖ sich aber abgefunden zu haben. ÖVP-Chef Hammerer beschäftigt derzeit vor allem der geplante Umbau der Mariahilfer Straße zur Fußgängerzone. Und FPÖ-Chef Grillmayer – braunkariertes Sakko, Schnurrbart, Schmiss im linken Mundwinkel – kann sich zwar in Rage reden, wenn es um den Akademikerball geht oder darum, „dass es jetzt schon ein Vorteil ist, ein Homo zu sein oder eine Homin oder wie das jetzt auf weiblich heißt“; wenn es um die Sozialeinrichtungen des Bezirks geht, klingt er eher so, als spräche er sich rein aus Gewohnheit dagegen aus. „Ich persönlich bin da toleranter“, sagt er, „aber man muss natürlich auf die Bürger Rücksicht nehmen, insbesondere auf unsere Wählerschicht“.

Besonders groß ist diese Wählerschicht im sechsten Bezirk allerdings nicht. Bei den letzten Bezirksvertretungswahlen 2010 hat die FPÖ hier nur elf Prozent der Stimmen bekommen, das viertschlechteste Ergebnis aller Bezirke; die Grünen hingegen haben mit 26 Prozent ihren viertbesten Wert erreicht. mariahilf bv-wahl 2005, Quelle: http://www.wien.gv.at/wahl/NET/BV051/BV051-206.htm Die Bewohner Mariahilfs verdienen mehr als der Durchschnittswiener und sind besser gebildet; die östliche Bezirkshälfte, wo sich neben dem Naschmarkt auch diverse hippe Lokale finden, ist eine typische Bobo-Gegend. „In ganz reichen Stadtteilen ist die Nimby-Fraktion sehr weit verbreitet“, sagt Jens Dangschat, Stadtsoziologe an der TU Wien: „In Stadtteilen mit Grün-Tendenz ist man stolz darauf, in einem toleranten Bezirk zu leben“. mariahilf bv-wahl 2010, Quelle: http://www.wien.gv.at/wahl/NET/BV101/BV101-206.htm

Tatsächlich scheinen die Mariahilfer es Renate Kaufmann nicht allzu übel zu nehmen, dass sie Randgruppen willkommen heißt: Seit Kaufmann Bezirksvorsteherin ist, gab es hier bei jeder Bezirksvertretungswahl Stimmenzuwächse für ihre Partei. Im Oktober 2010 – wenige Monate, nachdem der neue Standort des Ganslwirts beschlossen wurde – war Mariahilf gar der einzige Bezirk Wiens, in dem die SPÖ Stimmen dazugewann.

Falter, 15.5.2013

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