Die italienische Marine rettet 1900 Menschen aus dem Mittelmeer. Die österreichische Polizei greift in einem Reisezug 57 Eritreer und einen Syrer auf und verfrachtet sie über den Brenner. Im Flüchtlingslager Traiskirchen gilt wegen angeblicher Überlastung ein Aufnahmestopp: Nur einige von Dutzenden Meldungen zum Thema Flüchtlinge, die in den letzten Wochen auf uns eingeprasselt sind. Es ist leicht, da den Überblick zu verlieren. Eine Orientierungshilfe.
Jetzt streiten die Länder wieder um die Verteilung von Asylwerbern. Laut Krone kam zuletzt eine Rekordzahl von Flüchtlingen nach Österreich. Stimmt das?
Nicht wirklich. Im ersten Halbjahr 2014 haben 8395 Menschen in Österreich Asyl beantragt. Das ist aufs Jahr gerechnet weniger als zu Beginn der Nullerjahre, aber mehr als von 2006 bis 2011. In den letzten beiden Jahren gab es je etwa 17.500 Anträge, etwa so viele dürften es auch heuer werden.
Wieso ist das Erstaufnahmezentrum Traiskirchen dann überlastet?
Ist es gar nicht. Zum Zeitpunkt des Aufnahmestopps Ende Juli waren dort etwa 1400 Asylwerber untergebracht, zugelassen ist Traiskirchen laut der Plattform Dossier für etwa 1800. Die Behauptung von Landeshauptmann Erwin Pröll (ÖVP), das Lager sei nur für 480 Menschen konzipiert, ist falsch: Auf diese Zahl einigte er sich im Jahr 2010 mit dem Innenministerium, sie hat offenbar keine sachliche Begründung.
Wo kommen die Asylwerber her?
Derzeit vor allem aus Syrien, aber auch aus Afghanistan und der Russischen Föderation (also etwa aus Tschetschenien).
Sind das echte Flüchtlinge oder Asylwerber? Was ist nochmal der Unterschied?
Solange die Behörden nicht über ihren Asylantrag entschieden haben, sind sie Asylwerber. Die Behörden prüfen, ob sie, wie es in der Genfer Flüchtlingskonvention heißt, „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Überzeugung“ aus ihrem Heimatland geflohen sind. Bei wem das der Fall ist, der bekommt Asyl, gilt also als Flüchtling.
Und bei wem es nicht der Fall ist, der wird abgeschoben?
Nicht unbedingt. Er kann zum Beispiel auch subsidiären Schutz bekommen.
Subsi-was?
„Subsidiär“ bedeutet „unterstützend“ oder „behelfsmäßig“. Subsidiären Schutz bekommen Menschen, die zwar nicht politisch verfolgt werden und daher auch keinen Anspruch auf Asyl haben, deren Leben aber in ihrem Herkunftsland bedroht ist – etwa weil dort Krieg herrscht. Subsidiär Schutzberechtigte haben nicht die gleichen Rechte wie Asylberechtigte, können aber nicht abgeschoben werden, solange sich die Umstände in ihrer Heimat nicht ändern.
Das klingt abstrakt – ein Beispiel, bitte!
Nicht alle Syrer, die ihr Land verlassen, werden dort politisch verfolgt. Weil diese Menschen in Syrien wegen des Kriegs trotzdem in Lebensgefahr wären, bekommen sie subsidiären Schutz. 2013 etwa bekamen EU-weit erstinstanzlich 9920 Syrer Asyl zugesprochen. Mehr als doppelt so viele, nämlich 22.610, bekamen subsidiären Schutz. In Österreich sah es übrigens anders aus: Da bekamen letztes Jahr 838 Syrer Asyl, 253 subsidiären Schutz.
In letzter Zeit hat die Polizei in Tirol mehrmals Menschen aus Zügen geholt und nach Italien geschickt. Was hat es damit auf sich?
Viele jener Menschen, die derzeit übers Mittelmeer nach Europa kommen, wollen nach Nordeuropa, oft nach Schweden, etwa weil sie dort bereits Verwandte haben. Die sogenannte Dublin-III-Vereinbarung schreibt aber vor, dass das jeweils erste EU-Land, das ein Asylwerber betritt, seinen Asylantrag bearbeiten muss – das ist in diesen Fällen oft Italien.
Dublin III? Hieß das nicht Dublin II?
Ja, aber seit Anfang des Jahres gilt die Nachfolgeverordnung davon – eben Dublin III.
Und was hat sich damit geändert?
Nichts Grundsätzliches, kritisieren Flüchtlingsorganisationen. Im Vergleich zu Dublin II wurden etwa die Verfahrensrechte der Asylwerber gestärkt und die Situation für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge verbessert. Der Grundsatz, dass immer der erste EU-Staat, den ein Asylwerber betreten hat, dessen Antrag prüft, ist geblieben.
Gab es auch ein Dublin I?
Ja, nur nannte das niemand so. Das Dubliner Übereinkommen wurde 1990 unterschrieben, trat 1997 in Kraft und wurde 2003 durch Dublin II ersetzt.
Woher wissen die Behörden überhaupt, welches Land ein Asylwerber zuerst betreten hat?
Dafür gibt es die Fingerabdruckdatenbank Eurodac. Jeder Asylwerber und jeder Nicht-EU-Bürger, der ohne Visum in der EU angetroffen wird, muss seine Fingerabdrücke abgeben.
Wer nach Österreich will, muss doch immer durch ein anderes EU-Land durch. Wieso gibt es dann überhaupt noch Asylwerber in Österreich?
Wer es nach Österreich schafft, ohne zuvor in einem anderen Land von den Behörden aufgegriffen und registriert zu werden, der kann hier um Asyl ansuchen. Italien etwa, das nach dem Dublin-II-System besonders viele Asylanträge bearbeiten müsste, lässt Asylwerber oft einfach weiterziehen, ohne sie zu registrieren.
War da nicht auch etwas mit Griechenland?
Im kriselnden Griechenland ist die Situation für Asylwerber dermaßen schlecht, dass die anderen EU-Länder seit einem Gerichtsurteil von 2011 trotz Dublin II niemanden mehr dorthin abschieben dürfen.
Gibt es keine Alternativen zu diesem System?
Doch: Zivilgesellschaftliche Initiativen und auch das EU-Parlament fordern seit langem einen europaweiten Verteilungsschlüssel für Asylwerber. Vorbild könnte etwa der „Königsteiner Schlüssel“ sein, anhand dessen Deutschland Asylwerber und Flüchtlinge auf die verschiedenen Bundesländer verteilt. Ausschlaggebend dabei sind Bevölkerungszahl und Steueraufkommen der Länder.
Und warum wird das nicht umgesetzt?
Weil die EU-Innenminister dagegen sind – vor allem die von Staaten wie Deutschland und Österreich.
Was hat es eigentlich mit Frontex auf sich?
Diese 2004 geschaffene EU-Grenzschutzagentur wird seit langem heftig kritisiert, weil sie auf dem Mittelmeer Asylwerber in Seenot oft in Stich ließ. Sie soll sogar Flüchtlingsboote attackiert haben, damit die Passagiere nicht in der EU an Land gehen und Asyl beantragen können. Seit Ende 2013 versucht die italienische Marine im Rahmen des Projekts Mare Nostrum, Bootsflüchtlinge zu retten.
Warum kommen die Leute überhaupt auf diesem gefährlichen Weg, statt einfach an einer Botschaft Asyl zu beantragen?
Weil das nicht mehr geht. In Österreich sei diese Möglichkeit abgeschafft worden, nachdem 2001 bei der österreichischen Vertretung in Pakistan über 16.000 Asylanträge eingegangen seien, sagt Innenministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck: „Das hat die Verwaltung völlig überfordert.“
Gibt es da denn bessere Ansätze?
Viele Hilfsorganisationen und auch das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR propagieren das Resettlement-Modell.
Was heißt das?
Beim Resettlement holen wohlhabendere Staaten Flüchtlingen, bei denen klar ist, dass sie nicht in ihr Heimatland zurückkehren können, aktiv ins Land. Die UNHCR prüft vorab ihren Flüchtlingsstatus und vermittelt sie dann an ein Aufnahmeland. Dort bekommen sie sofort Asyl und Hilfe bei der Integration. Vor allem die USA und Kanada haben schon lange solche Programme.
Da werden die Leute direkt aus ihrem Herkunft sland geholt?
Nein, es geht um Menschen, die bereits geflohen sind, zum Beispiel in ein UNHCR-Flüchtlingslager oder in ein Nachbarland, wo sie aber keine Aussicht auf ein menschenwürdiges Leben haben.
Das macht Österreich doch schon, oder? Mit Syrern?
Ja. Vor einem Jahr haben Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und der damalige Außenminister Michael Spindelegger (beide ÖVP) angekündigt, im Rahmen einer „humanitären Aktion“ 500 Syrer nach Österreich zu holen. Nun sollen 1000 weitere folgen. Die Umsetzung des Projekts lief zunächst allerdings recht fragwürdig ab, und die Regierung lehnte den Begriff „Resettlement“ lange vehement ab.
Das hat sich jetzt geändert?
Ja, Anfang Juli hat Innenministerin Mikl-Leitner zumindest rhetorisch einen Schwenk gemacht und sich für EU-weite Resettlementprogramme ausgesprochen. Sie nennt das Ganze in etwas holprigem Englisch ihr „Save Lives Project“.
Wie ist da jetzt der Stand der Dinge?
Mikl-Leitner versuche derzeit, ihre EU-Amtskollegen von dem Konzept zu überzeugen, heißt es aus dem Ministerium. Bisher habe es aber nur von Deutschland, Schweden und Finnland positive Resonanz gegeben. De facto getan hat sich also noch nichts.
Zahlen zum Thema:
17.503 Menschen stellten im Jahr 2013 in Österreich Asylanträge. Das sind
2,1 Anträge auf 1000 Einwohner. Nur in Schweden (5,7) und Malta (5,3) waren es mehr. Die niedrigsten Verhältnisse hatten Portugal (0,048) und Tschechien (0,066)
34,4 Prozent aller Asylwerber bekamen 2013 EU-weit in erster Instanz Asyl, subsidiären oder humanitären Schutz. Unter Syrern waren es 90 Prozent, unter Eritreern 76 Prozent
30 Prozent betrug diese Anerkennungsrate in Österreich. In Bulgarien lag sie bei 88, in Malta bei 84 Prozent – in Ungarn hingegen nur bei 8, in Griechenland gar nur bei 4 Prozent
435 Syrer sind laut Innenministerium bisher über die „humanitäre Aktion“ der Republik nach Österreich gekommen, 1065 sollen noch folgen
1900 Menschen sind laut UNHCR seit 2012 beim Versuch, per Boot nach Europa zu gelangen, im Mittelmeer ertrunken
Quellen:
Asylstatistiken des Innenministeriums
Jahresbericht des European Asylum Support Office EASO (PDF)
Falter, 20.8.2014