In Zeiten von Facebook und Twitter wird Krieg nicht nur mit Gewehren geführt, sondern auch mit drastischen Fotos und Legenden. Drei Reporter erzählen
Die Fotos zeigen verschreckte Kinder, verstümmelte Flüchtlinge, sie zeigen Blut, Gewalt und Tod. Sie tauchen in der Facebook- oder Twitter-Timeline auf, wir sind empört, klicken auf „Teilen“ – und schon sind wir unfreiwillig Teil einer Propagandamaschinerie geworden.
Ob die Bilder echt sind, ob sie zur angegebenen Zeit am angegebenen Ort aufgenommen wurden, ob sie also zeigen, was sie zu zeigen behaupten – diese Fragen geraten im ersten Entsetzen oft ins Hintertreffen.
Seit es Krieg gibt, wird gelogen und getäuscht, werden eigene Kämpfer zu Helden und gegnerische zu Bestien gemacht. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Propaganda über das Radio und das Kino verbreitet. Ab dem Vietnamkrieg kam das Fernsehen dazu, seit dem Kosovokrieg bedienen sich die Kriegsparteien auch des Internets.
Berüchtigt ist etwa der Fall der 15-jährigen Nayirah im Irakkrieg 1990. Sie behauptete, irakische Soldaten hätten in einem kuwaitischen Spital Babys aus ihren Brutkästen genommen und sterben lassen. Später kam heraus: Die Geschichte war die Erfindung einer PR-Agentur, Nayirah die Tochter von Kuwaits Botschafter in den USA.
Dank der neuen Medien können wir heute so schnell wie nie zuvor herausfinden, was auf hunderte Kilometer entfernten Kriegsschauplätzen gerade geschieht. Wir können durch sie aber auch besonders leicht beeinflusst werden. In Syrien, der Ukraine und Gaza zeigt sich das deutlich.
Als in Syrien der Aufstand begann, der in den Bürgerkrieg mündete, kämpfte man medial um die Bewertung der Revolutionäre: Waren es liberale Demokraten oder doch islamistische Terroristen?
Ähnlich die Situation in der Ukraine: Die Maidan-Aktivisten – westlich denkende Progressive oder Faschisten? Die Separatisten im Osten – Freiheitskämpfer oder Putin-Söldner? Die russische Regierung soll hunderte Mitarbeiter dafür bezahlt haben, in sozialen Netzwerken und auf Nachrichtenseiten die öffentliche Meinung durch eine Flut von Kommentaren zu manipulieren.
Und der Nahostkonflikt ist von jeher auch ein Kampf um die öffentliche Meinung. Derzeit werden etwa unter dem Twitter-Hashtag #GazaUnderAttack grauenhafte Fotos geteilt und retweetet, also weiterverbreitet. Eine Analyse der BBC ergab, dass viele von ihnen mehrere Jahre alt sind oder aus Syrien oder dem Irak stammen.
Seriöse Medien sehen ihre Aufgabe darin, aus diesem Wirrwarr die Wahrheit herauszufiltern – oder zumindest etwas, was ihr nahekommt. Aber selbst für sie gilt: Die Dinge sind oft schwierig. Auch sorgfältig recherchierende Journalisten sind nicht davor gefeit, durch Propaganda instrumentalisiert zu werden. Drei von ihnen haben dem Falter von ihren Erfahrungen erzählt.
Richard C. Schneider
leitet das Tel Aviver Büro der ARD
Wenn ich „in real time“ wissen will, was passiert, ist meine Quelle heute Twitter, nicht mehr die Nachrichtenagenturen. Twitter ist allerdings ein schreckliches Propagandamedium geworden. Auch ausländische Journalisten retweeten grauenvolle Bilder, die manchmal gar nicht aus Gaza, sondern aus Syrien stammen. Ich tweete deswegen grundsätzlich keine Bilder außer solchen, die ich oder mein Team selbst aufgenommen haben.
Trotz aller Vorsicht beteiligt man sich letztlich indirekt am Propagandakrieg: Wenn etwas häufig behauptet wird, wird man verführt, es für bare Münze zu nehmen. Und weil man schnell reagieren muss – der Wettbewerb, wer der Schnellste mit der allerneuesten Nachricht ist, wird ja immer wahnsinniger -, ist eine Verifizierung fast nicht mehr möglich.
Eine Zeitlang hat uns die ARD aus Sicherheitsgründen angewiesen, nicht nach Gaza hineinzugehen. Wir hatten als Informationsquelle zwar noch mein Team dort, auf dessen Informationen ich mich verlassen kann – aber das Team kann mir nur erzählen, was es mit eigenen Augen sieht, was also räumlich in der Nähe passiert.
Vor etwa zwei Wochen kam dann ein Tweet, dass Gaza-Stadt bombardiert wird. Ich habe das sofort retweetet, weil es von einer unabhängigen NGO kam, der man erst mal Glauben schenkt. Ich war ganz erschrocken, weil ich dachte, oh Gott, jetzt bekommt der Krieg eine völlig neue Qualität. Innerhalb von ein paar Minuten kam die Meldung auch von verschiedenen anderen Seiten, vor allem von palästinensischen Tweetern, die ich aber nicht retweetete.
Ich rief dann mein Team in Gaza an und sagte: Bitte dreht sofort dieses Bombardement, so nah ihr halt herankommen könnt, ohne euch zu gefährden. Und mein Mitarbeiter sagte mir: Wovon redest du? Der Vorort Sadschaija wird – wie schon seit Tagen – bombardiert, aber Gaza-Stadt nicht. Dann sah ich auch schon, dass ich in der Zwischenzeit eine Twitter-Direktnachricht von einem Kollegen bekommen hatte, den ich persönlich kenne: „Richard, vertrau dieser NGO nicht, hinter diesem Twitter-Account steckt die Hamas“.
Cathrin Kahlweit
ist Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung
Am 2. Mai starben im ukrainischen Odessa bei einem Brand des Gewerkschaftshauses mehr als 40 Menschen. Wer trug die Schuld an der Katastrophe?
Die Faktenlage: Eine proukrainische Demonstration wurde von prorussischen Aktivisten angegriffen, beide Seite waren bewaffnet. Die Separatisten flüchteten ins Gewerkschaftshaus, Molotowcocktails flogen, das Haus fing Feuer. Ich war damals in Kiew und recherchierte aus 500 Kilometern Entfernung – ein Ding der Unmöglichkeit in diesem Propagandakrieg. Eine Kollegin reiste nach Odessa.
Wer konnte, mochte uns objektiv Auskunft geben? Die Polizei? Hatte sich zu eindeutig zurückgehalten. Der ukrainische Geheimdienst? Ist Partei. Augenzeugen, Reporter, Menschenrechtler? Überfordert von der chaotischen Lage und permanenter Desinformation.
Aus dem Moskauer Außenministerium hieß es, Kiew stecke „bis zu den Ellenbögen“ in Blut; Russia Today berichtete, ukrainische Faschisten hätten ihre Mitbürger angezündet und an der Flucht aus dem brennenden Haus gehindert. In Kiew war man weniger schnell mit Erklärungen bei der Hand, weil offenbar tatsächlich Nationalisten Molotowcocktails in das Haus geworfen hatten. Aber es wurde so argumentiert: Die Feinde der Ukraine hätten die Eskalation provoziert, Brandsätze seien von beiden Seiten – aus dem Haus und in das Haus – geworfen worden, dabei hätten Fehlwürfe Gardinen in Brand gesetzt. Später hätten Ukrainer ihre Mitbürger heldenhaft aus dem brennenden Haus gerettet.
Es folgte eine Flut ekliger, mutmaßlich manipulierter Bilder, fragwürdiger Analysen und gruseliger Verschwörungstheorien. Ich bekam E-Mails von Unbekannten, die anhand von Fotos und Lageplänen „bewiesen“, dass die Toten gar nicht verkohlt oder erstickt seien. Nur die Köpfe seien von Flammen zerstört gewesen, die Körper intakt. Oder: Die Opfer seien im Gewerkschaftshaus drapiert, aber anderswo getötet worden.
Auf V-Kontakte, dem russischen Facebook-Pendant, wimmelte es von grauenhaften Fotos – Photoshop? Eine Schwangere sei, so hieß es, im Gewerkschaftshaus mit einem Kabel erdrosselt worden. In den ukrainischen sozialen Netzwerken der Gegenangriff: Die Schwangere war 59, nicht schwanger, wurde nicht erdrosselt.
Was in Odessa wirklich geschah, ging in einer Welle von gegenseitigen Beschuldigungen und manipulierten Beweisen unter. Die UN haben am 15. Juni einen Bericht dazu vorgelegt, der eine traumatische Eskalation, aber keine Gräueltaten dokumentiert. Doch die Propagandamaschine, sie läuft weiter.
Wolfgang Bauer
berichtet als Reporter der Zeit aus Krisengebieten
Im Frühsommer 2006 recherchierte ich eine Reportage über die UN-Mission Monuc im Ostkongo. Ich bin in der festen Überzeugung hingefahren, dass da eine großartige Mission der UN gegen vergewaltigende, mordende Milizen antritt und die Menschenrechte durchsetzt.
Mitten in der Recherche musste ich mein Wertungssteuer herumreißen. Ich war bei einer pakistanischen Einheit „embedded“, konnte mich aber immer wieder von ihr lösen. Durch Zufall traf ich Vertreterinnen einer Frauen-NGO. Sie erzählten, dass die reguläre kongolesische Armee, die im Windschatten der UN-Truppen kämpfte, der Bevölkerung ein Ultimatum gesetzt hatte: Wer nicht innerhalb von vier Tagen aus dem Busch zur Hauptstraße kam, würde als Feind behandelt werden. Ich bin mit den Frauen in den Busch gegangen, wo sie die Menschen gesucht haben, um sie zu warnen – ein Wettlauf gegen die Zeit, weil die kongolesischen Soldaten betrunken und unter Drogen sind und wie wild vergewaltigen.
Da habe ich die Arbeit der Monuc plötzlich aus einer ganz anderen Perspektive gesehen: Sie war nicht Heilsbringer, sondern Helfershelfer einer grausamen, tyrannischen Armee. Wir haben dann auch von einer Racheaktion der UN-Truppen an einem Dorf erfahren, in dem sie Kämpfer der Milizen vermuteten. Sie griffen das Dorf an einem Markttag, als es voller Menschen war, mit schweren Waffen und Panzern an. Viele Unbeteiligte wurden getötet.
Natürlich hat man da einen Beharrungsinstinkt, man will bei seiner ursprünglichen These bleiben. Mein Fotograf war lange embedded – dabei verwächst man mit den Soldaten, weil sie einen ja schützen. Er hat den Perspektivenwechsel zuerst als Verrat empfunden, erst nach langen Diskussionen hat sich auch bei ihm der Schalter umgelegt.
Das ist ein Beispiel für eine sehr unspektakuläre, komplizierte Form der Propaganda: Der Konflikt ist im toten Winkel der Wahrnehmung, es gibt nur wenige Reporter dort. Also sind wir auf Agenturmeldungen angewiesen, aber die Kollegen der Agenturen sitzen auch nur in der Hauptstadt und gehen zu Pressekonferenzen der Monuc. Deren Führungsoffiziere sind ebenfalls nicht mit den Stiefeln am Boden, sondern verlassen sich auf die Berichte der pakistanischen Kommandeure vor Ort. Und die machen Propaganda in eigener Sache – sie haben keine politische Agenda, sondern sind einfach auf die Militärbürokratie getrimmt und wollen in ihrem Heimatland als Helden gefeiert werden.
Falter, 13.8.2014