Bis in die 80er-Jahre wurden in Wiens Psychiatrie behinderte Kinder misshandelt. Ein Untersuchungsbericht dazu bleibt geheim
Die Akten und Zeitzeugengespräche schockierten sogar die Profis: „Ich war immer wieder erschüttert“, sagt Susanne Drapalik, Ärztin und Bereichsleiterin im Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV), über ihre Recherchen zum Umgang mit behinderten Kindern und Jugendlichen in Wien von den 1960ern bis in die 1980er.
Es war im Mai 2013, da meldete sich die Krankenschwester Elisabeth Pohl beim Falter. Ab 1981 hatte sie im Pavillon 15 des heutigen Otto-Wagner-Spitals gearbeitet, wo 40 Jahre zuvor die Nazis 800 Kinder ermordet hatten, und grausige Missstände erlebt: Behinderte Kinder und Jugendliche wurden mit starken Medikamenten ruhig gestellt oder lagen den ganzen Tag, nackt und ohne Bettzeug, gefesselt in ihrem eigenen Kot und Erbrochenen. Manche kamen jahrelang nicht ins Freie. „Ich hab damals oft gedacht: Wenn ich gezwungen wäre, mein Kind hier abzugeben, ich würde es mit dem Polster ersticken“, sagte Pohl.
Nach Erscheinen des Falter-Artikels setzte der KAV eine interne Arbeitsgruppe um Drapalik ein, um das Thema aufzuarbeiten. Einen Antrag der ÖVP, eine unabhängige Kommission einzusetzen, lehnte der Gemeinderat ab. Die Kommission sichtete nach eigenen Aussagen historische Quellen und sprach mit Pohl und etwa zehn weiteren Zeitzeugen. Die Recherche sei nicht einfach gewesen, sagt Drapalik: Viele Unterlagen seien nicht mehr vorhanden, viele Fällen nur fragmentarisch dokumentiert worden.
Anfang 2014 übermittelte die Arbeitsgruppe ihren Bericht Gesundheitsstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ). Aus Datenschutzgründen könne der Falter den Bericht jedoch nicht bekommen, heißt es aus deren Büro. Stattdessen kam nun nach mehreren Nachfragen eine kurze Presseinfo, die vor allem die Verbesserungen seit der Psychiatriereform der 1980er-Jahre betont.
Man habe „keine Anhaltspunkte für vorsätzliche, strafrechtliche (wenn auch bereits verjährte) Vorgehensweisen finden“ können, heißt es in dem Bericht: „Das Verhalten der MitarbeiterInnen entsprach den in den 1960ern bis 1980ern üblichen Betreuungs-und Behandlungsmethoden, die mit den heute üblichen state of the art-Methoden in keinster Weise vergleichbar sind“.
Ihre Recherchen hätten Pohls Schilderungen bestätigt, sagt Drapalik: „Nur war das damals, so schrecklich das für uns heute ist, überall so.“ Pohl widerspricht: In vielen Einrichtungen sei es ähnlich zugegangen wie in Pavillon 15, in anderen aber seien „die Kinder wie Menschen behandelt worden“.
Stadträtin Wehsely zeigt sich in einer Stellungnahme gegenüber dem Falter „tief berührt“ von den Vorfällen: „Die damaligen Behandlungsmethoden sind für uns heute unvorstellbar und waren noch stark vom Naziregime geprägt“, schreibt sie. Ab Herbst soll ein Forschungsprojekt Missstände in den Psychiatrien der Stadt Wien historisch aufarbeiten. Wichtig sei ihr, dass die Kinder von Pavillon 15 heute in betreuten Wohngruppen der Stadt „ein Leben in Würde führen können“, schreibt Wehsely weiter.
Elisabeth Pohl reicht das nicht. „Mit misshandelten behinderten Kindern darf man nicht anders umgehen als mit nichtbehinderten“, sagt sie und wünscht sich daher Entschädigungen für die Opfer. Dieser Wunsch dürfte sich nicht erfüllen: „Auf Basis des jetzigen Wissensstandes sind Entschädigungszahlungen nicht geplant“ heißt es aus dem Stadtratsbüro.
Falter, 10.9.2014