Noch in den 1980er-Jahren wurden in Wien behinderte Kinder misshandelt. Die Stadt dilettiert bei der Klärung schwerster Vorwürfe. Nun bricht eine zweite Krankenschwester ihr Schweigen
Recherche: Ruth Eisenreich, Florian Klenk
Transparenz hatte die rot-grüne Stadtregierung versprochen. Doch jetzt, wo es unangenehm wird, wird das Versprechen gebrochen. Der elf Seiten starke „Schlussbericht“ des städtischen Krankenanstaltenverbunds (KAV), betreffend die Behandlung behinderter Kinder am Steinhof, wird nicht veröffentlicht, zum Wohle der Patienten, wie es heißt.
Das ist eine Ausrede. In dem Endbericht sind gar keine persönlichen Patientendaten enthalten, wie der Falter recherchierte. Die Geheimniskrämerei schützt bloß die Interessen der Stadt Wien, die offenbar keine neue Debatte über Misshandlungen in städtischen Einrichtungen führen will.
Gesundheitsstadträtin Sonja Wehsely (SPÖ) zeigt sich zwar „berührt“, da die Behandlung der Kinder noch von der NS-Zeit geprägt gewesen sei. Aber sie hält auch fest: Alles sei rechtens gewesen, damals in den 1980er-Jahren. Niemand habe sich strafbar gemacht.
Diese Conclusio ist erstaunlich. Denn die Krankenschwester Elisabeth Pohl hatte völlig andere Details zu Protokoll gegeben. Als die Stadt vor zwei Jahren die Geschichte misshandelter Kinder am Wilhelminenberg mustergültig aufarbeitete, erzählte die heute 54-Jährige dem Falter ihre Geschichte. Sie ereignete sich nur ein paar Gassen vom Wilhelminenberg entfernt, im Pavillon 15 des Otto-Wagner-Spitals.
Dort oben, am Steinhof, sperrte die Stadt schwer behinderte Kinder noch bis in die 1980er-Jahre hinein aufgrund der kakanischen „Entmündigungsordnung“ ein, weil sie als „nicht förderbar“,“nicht bildungsfähig“ oder „störend“ galten, wie die Patientenakten vermerken. Es waren Menschen, deren Anblick der Öffentlichkeit erspart werden sollte, weil sie anders aussahen, weil sie ständig schrien oder auch nur aus dem Mund „saftelten“, wie es in einem Protokoll heißt.
Was geschah mit diesen Kindern? Welche Verantwortung trugen jene Psychiaterinnen und Psychiater, die heute noch leben und zum Teil als Koryphäen der Stadt gelten? Warum reagierte das Rote Wien nicht? Darüber ist wenig bekannt.
Erst Elisabeth Pohl brach das Schweigen. Sie berichtete von Kindern, die mit Leintüchern zu Bündeln verschnürt wurden oder nackt und ohne Bettzeug im eigenen Kot und Erbrochenen in Netzbetten lagen. Vom Niederspritzen mit Beruhigungsmitteln und von Personal, das mit Gleichgültigkeit oder roher Gewalt regierte.
Nicht nur Pohl sprach mit dem Falter: Eine weitere Zeugin, die in den 1970er-Jahren am Steinhof arbeitete, gab an, Schwestern hätten die Zöglinge mit nassen Fetzen geschlagen, um keine Spuren zu hinterlassen. Kinder hätten aus dem Klo getrunken, um nicht zu verdursten. Die Autoritäten von damals – darunter der renommierte spätere Leiter des Psychosozialen Dienstes, Stephan Rudas – hätten nicht reagiert. Der Eindruck der Zeitzeugin: „Es war wie im tiefsten Mittelalter.“
Sonja Wehsely versprach volle Transparenz. Die SPÖ-Gesundheitsstadträtin ist sensibilisiert. Als erste Politikerin überreichte sie dem vom NS-Arzt Heinrich Gross am Steinhof gequälten Friedrich Zawrel einen Orden. Sie weiß zu gut, was Wiens Psychiater angerichtet haben. Sie sorgte dafür, dass behinderte Kinder nicht mehr in Pflegeheimen landen, sondern in WGs gefördert werden.
Umso erstaunlicher ist Wehselys Umgang mit Pohls Vorwürfen. Die Stadträtin setzte, wie Behindertenverbände und die Opposition kritisierten, kein unabhängiges Team ein, sondern beauftragte den KAV mit einem ersten Bericht. Jene Institution, die für den Steinhof verantwortlich ist, untersuchte sich also selbst, und das auch noch fernab öffentlicher Kontrolle. Entsprechend liest sich jetzt das Ergebnis.
Es habe in den Patientenakten „keinerlei Anhaltspunkte“ für strafbares (wenn auch verjährtes) Verhalten gegeben, so das Ergebnis des Berichts. Die Kinder seien damals katastrophal, aber „dem Stand der Medizin“ entsprechend behandelt worden. Und Pohls Aussagen? Warum sind sie keine „Anhaltspunkte“, die nähere Recherchen verdienen würden? Wurde ihren Angaben überhaupt akribisch nachgegangen?
Die traurige Antwort: nein. Der KAV-Bericht ist eine oberflächliche und halbherzige Auseinandersetzung mit der jüngeren Vergangenheit der Stadt. Zwar wurden Akten von etwa 30 Kindern durchforstet, zehn davon genau, aber neue Zeugen, etwa Schwestern und Ärzte, wurden nicht beharrlich ausgeforscht, Sachverhalte nicht penibel rekonstruiert, eine systematische Aufarbeitung oder Dokumentation erfolgte nicht.
Das Büro Wehsely gibt sich mit dem „Schlussbericht“ des KAV, der schon seit März fertig ist, offenbar auch nicht zufrieden. Er sei, so die offizielle Sprachregelung, „nur ein erster Schritt“ für ein großes wissenschaftliches Forschungsprojekt, das die Schattenseiten der Wiener Psychiatrie der Nachkriegszeit ausleuchten soll. Ein entsprechender Projektentwurf liegt dem Falter vor.
Der „geheime“ Bericht des Krankenanstaltenverbunds übt zwar Kritik am damaligen System und einigen „medizinischen“ Maßnahmen. Er streut den Ärzten und dem Pflegepersonal aber auch Komplimente. Sie hätten „Außerordentliches“ geleistet, so die befremdliche Conclusio des KAV. Nur das System sei halt leider überkommen gewesen.
Krankenschwester Pohl, die die Lage kritischer sieht, wird nach drei Interviews mit dem KAV (die ebenfalls nicht veröffentlicht werden) nur mehr als „angebliche Aufdeckerin“ bezeichnet, ihre detailreichen Aussagen sind im Schlussbericht nur in groben Zügen dokumentiert, ihre strafrechtlich relevanten Vorwürfe (Schläge, Kinder im Kot, unnötiger Freiheitsentzug) finden sich gar nicht mehr im O-Ton.
Der KAV hält immerhin fest, dass Kinder, die sich selbst „beschädigt“ hätten, entweder mit Bändern ans Bett gebunden oder mit starken Medikamenten sediert worden seien, weil sie „nicht brav“ gewesen seien, wie es damals hieß. Auch Valium, so wird zugegeben, sei „undifferenziert“ verabreicht worden, ohne die Nebenwirkungen zu beachten. Hin und wieder habe es auch Ohrfeigen gegeben. Strafrechtswidrig sei das alles aber nicht gewesen. Die Kinderpsychiatrie sei, so die rechtlich nicht näher ausgeführte Analyse des KAV-Berichts, ein „rechtsfreier Raum“ gewesen.
„Kein Missbrauch am Steinhof“ titelten da ORF und Kurier. Nicht nur Pohl ist enttäuscht, nun wollen auch andere Zeitzeugen nicht mehr schweigen. Ilse Walch, 59, etwa. Ab 1976 hat sie als „Lernschwester“ am Steinhof gearbeitet und wurde „auf den gefürchteten Pavillon 15 versetzt“, wie sie dem Falter erzählt.
Sie bestätigt nicht nur Pohls Angaben, sondern widerspricht energisch der Einschätzung des KAV und der Stadträtin, wonach das Verhalten der Mitarbeiterinnen „den üblichen Betreuungs-und Behandlungsmethoden entsprochen habe“. Die „unwürdigen Zustände“ seien schon damals skandalös gewesen, sagt sie. Ärzte anderer Stationen seien beim Anblick des Pavillon 15 schockiert gewesen.
„Wir reden hier bitte von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“, sagt Ilse Walch: „Da war es nicht mehr allgemein üblich, pflegebedürftige Kinder unterernährt, demobilisiert und nur in geschlossenen Räumen aufzubewahren.“ Hätten Eltern damals ihre Kinder so behandelt, wie es die Stadt Wien tat, wären sie ihnen sofort abgenommen worden: „In meinem persönlichen Umfeld hat mir niemand geglaubt, wie krass das war.“
Der Pavillon 15 sei in den späten 1970er-Jahren „die Hölle“ gewesen, sagt Walch. Richtige Pflege habe es ebenso wenig gegeben wie Zahnbürsten, Spielzeug oder ordentliche Kleidung.
Andere Patienten, sogenannte Hausarbeiter, hätten den Kindern „in einer Wanne mit einer Brühe voll Kot die Exkremente abgewischt“. Dann seien die Kinder „im Akkord gewindelt“, angezogen und entweder in ein mit Matratzen ausgelegtes abgesperrtes Saaleck oder in ihr Netzbett „verfrachtet“ worden. Die Schwestern hätten den Kindern das Essen „brutal reingespachtelt“, schildert Walch, manche seien dabei schlicht „übersehen“ worden. Die Unterernährung der Kinder sei jedem aufgefallen, der sie gesehen habe.
Niemand habe sich um die Kinder gekümmert, niemand mit ihnen gesprochen, Schläge seien „normal“ gewesen. Dass die Schwestern „wie Fleischhacker“ agiert hätten, sei dank des „extremen Personalmangels“ nicht verwunderlich gewesen. Walch sagt: „Auch ich habe Kinder geschlagen.“ Wie Pohl fordert auch sie eine Entschädigung der Kinder von Pavillon 15.
Wie es nun weitergeht? Der Falter stellte einen Antrag auf Herausgabe des elfseitigen Schlussberichts. Die Stadt Wien ist dazu verpflichtet. Die grüne Behindertensprecherin Birgit Hebein will den Bericht ebenso wie die Volks- und die Patientenanwaltschaft, auch ihnen wurde er verweigert.
Vielleicht zieht das Rathaus ja doch noch die Mitarbeiter jener Kommission zurate, die einst hochprofessionell unter Leitung der Richterin Barbara Helige die Zustände am Wilhelminenberg erforschte. Sie tat es ohne Abwertung der Zeitzeugen und vor allem ohne Geheimniskrämerei. Die Opfer wurden entschädigt, der Bürgermeister entschuldigte sich.
Chronologie der Ereignisse
Mai 2013: Die Krankenschwester Elisabeth Pohl meldet sich beim Falter und schildert die Misshandlungen behinderter Kinder, die sie in den 80er-Jahren im Pavillon 15 erlebte
Juni 2013: Der KAV beauftragt eine interne Arbeitsgruppe, die Vorwürfe aufzuarbeiten. Ein ÖVP-Antrag auf eine unabhängige Kommission wird im Gemeinderat abgelehnt
Oktober 2013: Man sei am Recherchieren, heißt es von der Arbeitsgruppe. Ausführliche Gespräche mit Pohl gibt es jedoch erst nach weiterem Druck von außen
Mai 2014: Der Bericht ist fertig und liegt im Stadtratsbüro. Er werde in drei Wochen veröffentlicht, heißt es dort
September 2014: Auf Nachfrage erhält der Falter eine dürre, knapp zwei A4-Seiten lange „Presseinfo“. Wie sich herausstellt ist der KAV-Bericht nur sehr oberflächlich. Nun meldet sich eine dritte Zeugin zu Wort
Falter, 17.9.2014
Alle Texte zum Pavillon 15 gibt es hier nachzulesen.