Ein Beinahe-Mord zu viel

Maria da Penha hat das in Brasilien wichtigste Gesetz für Frauen in die Wege geleitet: gegen häusliche Gewalt

Im Mai 1983, Maria da Penha war 38, wurde sie eines Morgens von einem Knall geweckt und konnte sich nicht mehr bewegen. Jemand hatte ihr in den Rücken geschossen. Ein Raubüberfall, unbekannte Täter, sagte ihr Mann. Später stellte sich heraus: Er hatte selbst abgedrückt. Vier Monate und zwei Operationen später kehrte Maria da Penha querschnittsgelähmt aus dem Krankenhaus zurück, und erneut versuchte ihr Mann, sie zu töten, diesmal durch einen Stromschlag beim Duschen – das Wasser in brasilianischen Duschen wird elektrisch erhitzt.

Hätte er Erfolg gehabt, wäre sie heute Teil einer traurigen Statistik: Von 1980 bis 2013 wurden in Brasilien 106 093 Frauen gewaltsam getötet, das sind im Schnitt 60 pro Woche, viele von Partnern oder Ex-Partnern. Viele, weil sie sich von ihnen trennen wollten. Auch Maria da Penha zögerte daher lange, ihren aggressiven Mann zu verlassen. Zumal die Täter zur Zeit ihrer Ehe nur selten im Gefängnis gelandet seien, erinnert sie sich: „Es wurde geurteilt, sie hätten aus Liebe den Verstand verloren.“

Nach dem zweiten Mordversuch jedoch fasste sie sich ein Herz: Sie verließ ihren Mann und zeigte ihn an. Zwei Mal, 1991 und 1996, wurde er für die Mordversuche zu Haftstrafen verurteilt, doch seine Anwälte legten beide Male Rechtsmittel ein, er blieb in Freiheit. Der Gedanke an ihre Töchter, 1983 sechs, vier und ein Jahr alt, habe ihr damals Kraft zum Weiterkämpfen gegeben, sagt da Penha heute.

Ihr Fall wurde bald in ganz Brasilien bekannt, weil sie etwas wagte, was sich die wenigsten misshandelten Frauen trauen: Sie sprach öffentlich über ihre Erfahrungen, schrieb ein Buch. 1998 kamen zwei brasilianische NGOs auf sie zu: Ob sie Brasilien bei der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten anzeigen wolle, weil ihr Ex-Mann noch immer auf freiem Fuß sei? Sie wollte.

2001 urteilte die Kommission, Brasilien habe durch sein Nichtstun internationale Verträge gebrochen, und forderte das Land auf, da Penhas Ex-Mann endlich zu bestrafen und den rechtlichen Schutz für Frauen zu verbessern. So landete ihr Fast-Mörder knapp zwei Jahrzehnte nach seinen Taten doch noch im Gefängnis. Und Brasilien beschloss unter dem linken Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, der von 2003 bis 2010 regierte, das Gesetz Nummer 11 340, bekannt als „Lei Maria da Penha“, als „Maria-da-Penha-Gesetz“.

International gilt das Regelwerk als vorbildlich. Es ermöglicht Kontakt- und Betretungsverbote für Gewalttäter, schafft verschiedene Formen von Unterstützung für betroffene Frauen – etwa auf häusliche Gewalt spezialisierte Polizeiwachen und Gerichte –, sieht die Einrichtung von Frauenhäusern vor und erhöht die möglichen Strafen für häusliche Gewalt, egal ob physisch, sexuell oder psychisch. Allein 2017 wurden nach dem „Lei Maria da Penha“ 237 000 einstweilige Verfügungen ausgesprochen und 336 000 Gerichtsurteile gefällt.

In Brasilien gilt Maria da Penha deshalb als Ikone. Die inzwischen 74-Jährige, die seit dem ersten Mordversuch im Rollstuhl sitzt, reist nach wie vor durchs Land, hält Vorträge und nimmt an Diskussionen teil. 2009 gründete sie ein Institut, das ihren Namen trägt, Präventionskurse gegen häusliche Gewalt anbietet und Daten sammelt.

Denn auch wenn das Gesetz viel Gutes bewirkt hat – erledigt hat sich das Problem der Gewalt gegen Frauen in Brasilien noch lange nicht. 2018 wurden 1173 Feminizide, also Morde an Frauen aufgrund ihres Geschlechts, verübt. Es fehle Geld für die verschiedenen Einrichtungen, die das Gesetz vorsieht, sagt da Penha; in Großstädten sei die nötige Infrastruktur vorhanden, in kleinen Gemeinden aber nicht. Und unter dem neuen Präsidenten Jair Bolsonaro – einem Mann, der einer Parlamentskollegin einmal sagte, sie verdiene es nicht, vergewaltigt zu werden –, ist keine Besserung zu erwarten. Eine von Bolsonaros ersten Maßnahmen nach dem Amtsantritt im Januar 2019 war eine Lockerung der Waffengesetze. Das entsprechende Gesetz wurde vom Parlament zwar abgeschwächt. Da Penha aber glaubt, dass es die Brasilianerinnen trotzdem gefährde. Die große Mehrheit der Männer sei nicht gewalttätig, sagt sie. Aber „wer immer schon gewalttätig war, dem gefällt, was gerade passiert“.

Maria da Penha, 74, geboren in Fortaleza im Nordosten Brasiliens, studierte in São Paulo Pharmazie und lernte dort auch ihren Mann kennen, einen späteren Professor, der in den 1980er-Jahren zwei Mal versuchte, sie umzubringen. 2006 trat das nach ihr benannte brasilianische Gesetz gegen häusliche Gewalt in Kraft. Heute lebt Maria da Penha wieder in Fortaleza. Zu ihrem Ex-Mann hat sie keinen Kontakt mehr.

Brigitte, 23. Oktober 2019

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