Radiowellen in 68 Sprachen

Ob Amharisch, Birmanisch, Tongaisch oder Deutsch: Beim australischen Radiosender SBS bekommen Migranten Nachrichten und Unterhaltung in ihrer Muttersprache

7 Uhr Griechisch, 8 Uhr Slowenisch, 9 Uhr Vietnamesisch, 10 Uhr Mandarin, 11 Uhr Französisch, 12 Uhr Albanisch. Was wie der Lehrplan einer Sprachschule klingt, ist das dienstägliche Sendeschema des öffentlich-rechtlichen australischen Radiosenders SBS (Special Broadcasting Service). In 68 Sprachen sendet das nach Eigenaussage sprachlich diverseste Medienunternehmen der Welt; jede Sprachgruppe hat, je nach Anzahl der Sprecher in Australien, ihres Alters, ihrer Englischkenntnisse, der Arbeitslosenrate und der Dauer ihres Aufenthalts, eine gewisse Anzahl an Stunden pro Woche zur Verfügung. Eine für Assyrisch, Kurdisch oder Litauisch, 14 für Griechisch, Italienisch oder Vietnamesisch.

SBS ist die mediale Verkörperung der australischen Multikulturalismus-Politik, die das Land seit den 1970er Jahren prägt. Damals wurde gemeinsam mit der „White Australia Policy“, die jahrzehntelang Einwanderung aus nicht-europäischen Ländern unterbunden hatte, auch die Politik der Assimilation verworfen. „Die australische Regierung preist und schätzt die Vorteile von kultureller Diversität für alle Australier“, steht in der aktuellen Version der offiziellen Multikulturalismus-Richtlinie. „Sie setzt sich für eine gerechte, inklusive und sozial zusammenhaltende Gesellschaft ein, in der Jeder die Möglichkeiten wahrnehmen kann, die Australien bietet, und in der Regierungsleistungen den Bedürfnissen von Australiern mit unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Hintergründen entsprechen.“

Das bedeutet noch lange nicht, dass Migranten kein Englisch lernen sollen – aber die Verfügbarkeit von Information in der Muttersprache wird in Australien nicht als Widerspruch zu Integration gesehen. „SBS Radio ist ein Medium für Integration“, erklärt Ien Ang, Kulturwissenschaftsprofessorin an der University of Western Sydney und eine der Autorinnen des Buches „The SBS Story: The Challenge of Cultural Diversity“. „Integration passiert gerade dadurch, dass Migranten Informationen über australische Themen in einer Sprache bekommen, die sie gut können“. SBS Radio helfe Migranten, die australische Gesellschaft kennen- und verstehen zu lernen, auch wenn sie (noch) nicht perfekt Englisch sprechen, sagt Ang; das schaffe „mehr Loyalität und Liebe zum Land“.

Die in Österreich häufig geäußerten Befürchtung, dass Kommunikation in der Muttersprache Migranten vom Deutschlernen abhalte, sei unbegründet, sagt Hans-Jürgen Krumm, emeritierter Professor für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Universität Wien. Er vergleicht das Sprachenlernen mit einem Haus: „Jedes Haus braucht ein Fundament“, sagt er, „und in der Sprachentwicklung braucht das Haus Zweitsprache das Fundament Erstsprache. Wir können viele Dinge, die wir in unserer Erstsprache zu entwickeln anfangen – das Identitätsgefühl, aber auch bestimmte kognitive Prozesse – in die zweite Sprache mitnehmen“. Wenn aber, wie derzeit in Europa oft der Fall, die Erstsprache stagniere, gebe es nichts mitzunehmen, das Fundament bleibe brüchig. Medien in der Muttersprache könnten hier eine entscheidende Rolle spielen, sagt Krumm.

Am Anfang von SBS stand ein pragmatischerer Gedanke: Die Sender 2EA und 3EA (für „Ethnic Australia“) wurden 1975 gegründet, um Migranten über eine Umstellung des Krankenversicherungssystems zu informieren. Sie sollten zunächst nur drei Monate lang in acht Sprachen senden, doch wegen ihres durchschlagenden Erfolgs beim Publikum wurde SBS im Lauf der Jahre als eigenständige Behörde etabliert und die Zahl der Sendestunden und Sprachen stetig erhöht.

In der australischen Mehrheitsbevölkerung ist SBS Radio allerdings weniger bekannt als SBS Television, 1980 als zweiter öffentlich-rechtlicher Fernsehsender neben der größeren Australian Broadcasting Corporation (ABC) gegründet. Während der Radiosender sich hauptsächlich an Migranten richtet, soll SBS Television die Idee des Multikulturalismus in der Mehrheitsbevölkerung fördern. Es sendet großteils auf Englisch, hat aber multikulturelle Inhalte, zeigt – ungewöhnlich für Australien – Nachrichten mit einem Schwerpunkt auf internationalen Themen, bringt fremdsprachige Filme mit Untertiteln und hat den Ruf eines Qualitätssenders.

Auch Oliver Heuthe verband SBS lange Zeit nur mit qualitätsvollem Fernsehen: „Die Medien hier sind nicht die tollsten“, sagt er, „gerade in den Jahren vor Youtube war SBS neben ABC das Einzige, das einen am Leben gehalten hat“. Der heute 30-jährige Deutsche kam im Jahr 2002 für eine einjährige Auszeit nach Australien, studierte dann in Melbourne Medien und landete schließlich als Redakteur beim deutschen Programm von SBS Radio, das zehn Stunden pro Woche sendet.

Das Internet habe die Rolle des Senders verändert, sagt er: „Traditionell war SBS die Brücke in die Heimat. Das erfüllt jetzt das Internet, die Leute holen sich ihre Nachrichten aus der Heimat direkt von der Quelle, sprich Spiegel, ARD, Kurier, NZZ“. Überholt sei SBS Radio aber trotzdem – und trotz seiner alternden Zuhörerschaft – nicht: „Heute ist unsere Rolle, die deutschsprachige Community zusammenzubringen. Und wir geben australische Geschehnisse, australische Politik in deutscher Sprache wieder und haben wegen unseres Hintergrunds eine andere Herangehensweise als australische Medien“.

Die Funktion von SBS erschöpft sich nicht in der Informationsvermittlung. Dank des Senders fühlen sich Migranten „in ihren ursprünglichen ethnischen Identitäten anerkannt und somit mehr einbezogen“, sagt Ien Ang. Und nach Ansicht von Hans-Jürgen Krumm hat ein öffentlich-rechtliches Medium in den Herkunftssprachen der Migranten eine weitergehende Funktion als von ihnen selbst geschaffene Medien, wie es sie auch in Österreich gibt: „Ich finde es schön, wenn sich Migranten ihre eigenen Medien schaffen“, sagt er, „aber es ist wichtig, dass der Staat – die Gesellschaft, in der sich die Migranten zuhause fühlen wollen – seinerseits Signale der Anerkennung ihrer Vielsprachigkeit liefert“.

Liga 2/2011

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