Die Volksfront von Österreich

Eine politische Bewegung nach der anderen schießt aus dem Boden. die Wütenden wirken chaotisch, haben aber mehr gemeinsam, als der erste Blick vermuten lässt

Rundschau: Ingrid Brodnig, Ruth Eisenreich

Es ist Sonntagnachmittag, 53 Nerds versammeln sich im Werk, einem Kulturzentrum in Wien-Ottakring. Drinnen ist es dunkel, viele Männer tragen T-Shirts, lange Haare, Brillen und wirken tatsächlich so, als hätten sie gerade an der Informatik-HTL maturiert. Sie haben ihre Computer mitgebracht, es gibt fast mehr Laptops im Raum als Menschen. Dafür sind kaum Frauen zu sehen hier am Parteitag der österreichischen Piraten. Dabei wird hier die neue Führung gewählt. Mehr noch: Es soll eigentlich das politische System des Landes umgekrempelt werden.

Dann ergreift der Erste das Wort. Der Mann mit Brille und langem Haar spricht über die Bestechlichkeit des Menschen, dann gesteht er ganz offen: „Auch ich bin ein korrupter Wichser.“ Dennoch will dieser Pirat im kommenden Jahr den Nationalrat entern.

Doch so schnell geht das alles nicht. Während die deutschen Piraten Wahlerfolge feiern, in Berlin 8,9 Prozent, im Saarland zuletzt 7,4 Prozent erreichten, konnten die österreichischen Kollegen nicht einmal genügend Unterstützungserklärungen für die Wienwahl auftreiben. Sie müssen zuerst diese seltsame Piratenparteibürokratie bewältigen, die Tages- und Geschäftsordnung aushandeln. Die Piraten wirken dabei so zerstritten wie die Mitglieder der Judäischen Volksfront in Monty Pythons „Das Leben des Brian“. Die wollte Rom stürzen, die Partei das politische System in Wien.

Ein klares Parteiprogramm gibt es noch nicht, dafür aber schon fünf Bundesvorstände, und einer davon ist Rodrigo Jorquera, 32 Jahre, chilenische Wurzeln. Nach stundenlangen Diskussionen wurde er hier im Werk gewählt. Er sieht die langen Debatten nicht als Chaos, sondern als Zeichen basisdemokratischer Reife. „Bei uns“, sagt er, „gibt es eben keinen Oberhäuptling, der alles entscheidet.“ Jorquera will die Partei nun „stabilisieren“, wie er das nennt: „Wir müssen nicht immer das Rad neu erfinden. Wir müssen aber unsere Strukturen festigen.“ Ein Jahr hat die Nerdfront dafür noch Zeit.

Kleine politische Bewegungen gab es immer schon. Doch hier im Werk ist etwas anders: Die österreichischen Piraten ziehen neugierige Journalisten an. Es wirkt, als wären die Computerexperten ein Versprechen für eine bessere politische Zukunft. Die Piraten gewähren Interviews, sie plaudern in ORF-Fernsehdiskussionen, wo von einem „Angriff“ auf die herkömmlichen Parteien die Rede ist.

Die Piraten sind auch nicht die Einzigen, die das politische Establishment stürzen wollen: Fast schon im Wochentakt gründen sich neue Parteien, Bewegungen und Initiativen, von der Onlinepartei über Occupy Austria bis zu den Mutbürgern. Selbst der betagte Milliardär und Unternehmer Frank Stronach liebäugelt mit einer Parteigründung.

All das mag skurril wirken, die politische Landschaft könnte durch all die Splittergruppen aber umgepflügt werden. Wahlforscher prognostizieren den neuen Bewegungen ein Potenzial von zehn bis 20 Prozent der Wählerstimmen. Denn Österreich sehnt sich nach neuen Bewegungen, Österreich ist wütend. Doch worüber überhaupt? Ist es nur ein Bauchgefühl, das die Leute so unzufrieden macht? Sind es ein paar Partikularinteressen? Oder gibt es eine breitere gesellschaftliche Agenda, die all diese Bewegungen vereint?

Besonders radikal ist die Online Partei Österreich. Die Parteigründer – ein Informatiker, ein Gastronom und ein Marketingexperte, alle um die 30 – wollen nicht weniger, als die Demokratie neu erfinden. Statt eines Parteiprogramms und einer Ideologie bieten sie eine Website mit Onlinevoting. Die Abwesenheit jeglichen inhaltlichen Programms wird zur Kernidee geadelt: So wie die Mehrheit entscheidet, sollen die Funktionäre der OPÖ im Parlament abstimmen. Egal, wie das Volk tickt und klickt.

„Wir sagen gar nicht, dass das der Weisheit letzter Schluss wäre“, gesteht Stefan Schartlmüller, 28, einer der drei Gründer. Er sieht die gemeinsame Webseite eher als „Beginn einer Debatte“, als Möglichkeit, wütende Bürger gegen „die da oben“ zu vernetzen.

Mit seiner Enttäuschung über die etablierten Parteien ist Schartlmüller nicht allein: Es herrscht Politikverdrossenheit im korruptionsgeschüttelten Land. Das ist erstaunlich, denn Österreich ist im internationalen Vergleich überaus wohlhabend, die Finanzkrise hat das Land weniger stark gebeutelt als andere.

Auch die europäische Wertestudie zeigt, dass Österreicher im internationalen Vergleich relativ glücklich und mit dem politischen System insgesamt zufrieden sind – und gleichzeitig raunzen sie doch auffällig oft über ihre Regierung.

Ist der Unmut also Jammern auf hohem Niveau? Nein, wenn man dem Soziologen Max Preglau von der Universität Innsbruck glauben darf. Er sieht die generelle Unzufriedenheit mit der Politik als Symptom eines Strukturwandels, den Sozialwissenschaftler als Postdemokratie bezeichnen.

Die These lautet so: Die Politik hat sich selbst aufgegeben, indem sie immer größere Teile ihrer Verantwortung an die Wirtschaft oder an supranationale Gebilde wie die EU abgegeben hat. Nationale Politiker, einst Zampanos, wirken nicht nur machtlos und unfähig, sie haben auch tatsächlich viel weniger Einfluss als früher. Nicht Regierungen, sondern Ratingagenturen geben das Tempo vor.

Federführend in dieser Debatte ist der britische Politologe Colin Crouch, der den Begriff der Postdemokratie geprägt hat und die heutige Tagespolitik als von PR-Profis inszeniertes Spektakel beschreibt.

Was Colin Crouch mit dem Wort „Postdemokratie“ meint, spürt man jetzt sogar im Mostviertel. Dort gewann die Spaßliste FUFU ohne jegliches Programm auf Anhieb 5,7 Prozent der Stimmen – selbst Parteigründer Martin Dowalil grübelt nun: „Was ist los, wenn Leute wie ich in den Gemeinderat kommen? Da muss etwas schiefrennen, oder?“

Die Unzufriedenheit ist kein rein österreichisches Phänomen. Das zeigte bereits die Occupy-Bewegung. Wochenlang besetzten vergangenen Herbst Unzufriedene den Zuccotti Park in New York. Von dort aus verbreitete sich Occupy über die ganze westliche Welt und verschmolz mit anderen Initiativen, wie der der spanischen „Indignados“ (Empörten).

In Österreich ist Occupy nie so richtig in Schwung gekommen. Vermutlich, weil die Situation hierzulande noch nicht so schlimm sei wie in anderen Ländern, vermutet Susan Florries, eine 35-jährige Filmregisseurin und Occupy-Aktivistin; aber auch eine schwächere Protestkultur könnte eine Rolle spielen.

Susan Florries, eine blonde Frau im Strickpulli, repräsentiert nicht Occupy, das betont sie mehrmals. Sie hat schlechte Erfahrungen mit Medien gemacht, deswegen will sie das Gespräch mit einem Diktiergerät aufzeichnen. Denn richtig viel mediale Aufmerksamkeit hat Occupy Austria bisher erst einmal bekommen: als bei einer Veranstaltung der mittlerweile wegen möglicher Verstöße gegen das Verbotsgesetz suspendierte WU-Professor Franz Hörmann sprach. Seitdem kämpft Occupy Austria mit dem Ruf, von Rechten und Spinnern unterwandert zu sein.

Für Florries selbst ist Occupy keine Protest-, sondern eine Prozessbewegung. „Ich bin nicht wütend“, stellt sie klar. Ihr gehe es um Selbstentwicklung, um Vertrauensaufbau, um das Üben von demokratischen Prozessen und Konsensfindung.

Nicht alle neuen Initiativen sind jung und internetaffin wie die Piraten oder Occupy. Auch ältere, konservativere Bürger lehnen sich auf. Selbst sie spüren das Bedürfnis nach frischem Wind in der Politik.

Die sogenannten Mutbürger, ursprünglich auch Wutbürger genannt, sind eine der bekanntesten Protestgruppen. Vor knapp einem Jahr hat die Journalistin Anneliese Rohrer diese Plattform ins Leben gerufen.

Hier versammeln sich die älteren unter den Unzufriedenen, jene, die „jahrelang gut angepasst in und mit den bestehenden Verhältnissen gelebt“ hätten und sich gerade deshalb jetzt auflehnen würden, wie Rohrer in einem Kommentar bestätigt.

Manfred Schärfinger ist so ein Mutbürger. Er trägt einen Mutbürger-Button, sitzt am Mutbürger-Stammtisch, verteilt Mutbürger-Visitenkarten und Mutbürger-Broschüren.

Schärfinger ist 57, Unternehmensberater und Vizebürgermeister von Oberwaltersdorf nahe Baden. Vor zwölf Jahren schon hat er dort eine Bürgerliste aufgebaut, die mittlerweile vier Gemeinderäte stellt; auch eine Partei, die „Gemeinschaft der Bürger-innen“, hat er gegründet. Dann stellte er fest: „Wenn man von einer Partei spricht, gehen die Menschen fünf Schritte zurück.“

Nicht immer ist bei den Mutbürgern klar, wofür oder wogegen man eigentlich ist; oft wollen Teilnehmer nur Partikularinteressen durchsetzen. Inzwischen sei auch das besser geworden, sagt Schärfinger: „Es verlagert sich vom scheppernden Kanaldeckel vor der Haustür zum Gestalten.“

Schärfinger findet, dass in der Politik vor allem strukturell viel schiefläuft. Nicht die Sach-, sondern die Parteipolitik stünde im Vordergrund. Der Gesellschaft, sagt er, sei die Werteorientierung verlorengegangen, die Politik brauche mehr Bürgerbeteiligung.

Es geht also um die Idee der Demokratie an sich, nicht um konkrete Inhalte. Das vereint viele der neuen Bewegungen. Letzte Woche ist unter der Führung des Politikberaters Matthias Strolz, 38, der unter anderem für die ÖVP gearbeitet hat, die Initiative „Österreich spricht“ an die Öffentlichkeit gegangen.

Strolz und seine Mitstreiter wollen einen gesellschaftspolitischen Diskurs zu den Themen Transparenz und Demokratiereform anstoßen, sie überlegen aber auch, eine neue Partei zu gründen. Die Entscheidung soll im Herbst fallen, bei einem Konvent, der öffentlich sein soll – man will ja „einen anderen, offenen Politikstil“.

Die Initiative will sich der großen Themen annehmen: Bildung, Wirtschaft, Soziales, Demokratiereform. Den Eindruck, nur eine weitere idealistische Chaostruppe zu sein, wollen Strolz und seine Kollegen um jeden Preis vermeiden. Von Professionalität ist hier die Rede, von Handwerk, Pragmatik und evidenzbasiertem Arbeiten. „Was wir tun, muss Hand und Fuß haben“, heißt es, „es ist nicht so, dass uns fad ist.“ Konkrete Inhalte aber will man noch nicht verraten. „Wir sind jenseits des Links-rechts-Systems. Wir haben ein postmodernes Systemverständnis“, sagt Strolz.

Johannes Voggenhuber ist skeptisch angesichts all der neuen Parteien, die derzeit aus dem Boden sprießen. „Es gärt im Land, aber man muss noch schauen, ob wirklich ein Wein entsteht“, sagt der ehemalige grüne EU-Abgeordnete und wählt den umgekehrten Weg: Der 61-Jährige und seine Mitstreiter wollen die bestehenden Parteien zur Erneuerung zwingen.

Gemeinsam mit etlichen namhaften Vertretern der Zivilgesellschaft und Altpolitikern hat Voggenhuber deshalb die Initiative „Mein Österreich“ gegründet. Zusammen mit Ex-LiF-Chefin Heide Schmidt oder dem früheren ÖVP-Vizekanzler Erhard Busek will Voggenhuber ein Demokratiebegehren starten. Ein „neuer Föderalismus“, „eine unabhängige Justiz“ und die „Entschlossenheit gegen Korruption“ sind Kernthemen.

Bis zur Nationalratswahl müssen die Parteien transparenter werden, sagt Voggenhuber, und wenn das scheitert, könnte eine Parteigründung folgen: „Sollten die Parteien unbelehrbar sein, dann könnte aus unserer Demokratiebewegung eine neue politische Kraft entstehen.“

Alle Initiativen ahnen, dass es nicht leicht ist, im festgefahrenen System tatsächlich etwas zu bewegen. Und sie wissen auch: Wenn sie alle an ihrem eigenen Dilettantismus oder an Grabenkämpfen scheitern, wenn gleichzeitig die klassischen Parteien weiterhin an Vertrauen verlieren, dann werden die Rechten 2013 die Wahl gewinnen.

Um ihre Kräfte zu bündeln, wollen sich einige Bewegungen besser vernetzen. Matthias Strolz redet mit Frank Stronach, die OPÖ spricht mit den Mutbürgern, die Mutbürger reden mit den Piraten. Denn eines haben all diese Initiativen gemein, egal wie chaotisch oder widersprüchlich ihre Linien sein mögen: Ihre Kritik setzt vorwiegend an Strukturen und weniger an Inhalten an, sie fordern mehr Mitbestimmung, gehen aber kaum darauf ein, was sie denn damit machen würden.

Was die neuen Bewegungen antreibt, ist keine Ablehnung der Politik an sich, sondern eine Ablehnung einer Politik, die keine Verantwortung übernehmen will. Ob durch Onlineabstimmungen wie bei den Piraten, durch Asambleas wie bei Occupy oder durch Volksbegehren wie bei Mein Österreich, die neuen Bewegungen kämpfen eigentlich um etwas ganz Traditionelles: um eine Rückbesinnung auf die Demokratie.

Falter, 4.4.2012

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