Bessere medizinische Versorgung oder totale Überwachung – was bringt die Elektronische Gesundheitsakte wirklich?
Der Chef in spe zieht die Augenbrauen hoch. „Eigentlich sind Sie der bestqualifizierte Bewerber für den Job“, sagt er. „Aber ich sehe hier, dass Sie HIV-positiv sind. Und mit 19 Jahren waren Sie bei einem Facharzt für Psychiatrie? Tut mir leid, solche Mitarbeiter können wir nicht brauchen.“Solche Szenen kommen vielen Menschen in den Sinn, wenn sie an Elga, die Elektronische Gesundheitsakte, denken. Aber was ist an diesem Horrorszenario dran? Macht Elga uns wirklich zum sprichwörtlichen „gläsernen Patienten“ – oder ist es ein harmloser Weg zu besserer medizinischer Betreuung?
Seit Jahren wird über die Elektronische Gesundheitsakte debattiert; jetzt wird das Vorhaben konkret. Geht der neueste Gesetzesentwurf von Gesundheitsminister Alois Stöger (SPÖ) durch, muss innerhalb des nächsten Jahres die Infrastruktur für Elga stehen; ab 2015 müssten Krankenhäuser und Apotheken, ab Juli 2016 auch Kassenärzte Daten im Elga-System speichern.
Ob es wirklich so kommen wird, weiß niemand: Die Ärztekammer läuft Sturm gegen das neue Gesetz, FPÖ und BZÖ sprechen von „Pfusch“, Datenschützer warnen vor dem „gläsernen Patienten“, auch in der ÖVP und bei den Grünen sind viele unzufrieden.
Der Streit um Elga ist Teil einer größeren gesellschaftspolitischen Debatte, die jeden betrifft und daher auch kaum jemanden kalt lässt. Immer mehr praktische, aber durchaus heikle Technologien kommen auf den Markt. Sei es bei der Facebook-Nutzung oder bei der Kundenkarte im Supermarkt – immer wieder müssen wir uns die Frage stellen: Wie viel Bequemlichkeit brauchen wir und welche Risiken sollen, können, wollen wir dafür eingehen?
Dass die Idee hinter Elga gut ist, bestreitet kaum jemand: Wenn der Arzt mit einem Mausklick Allergien und frühere Befunde seines Patienten einsehen kann und daher weniger nachfragen und weniger zusätzliche Untersuchungen bestellen muss, spart das allen Beteiligten Zeit und Geld. Wenn der Apotheker sehen kann, welche Medikamente sein Kunde bereits nimmt, verringert sich die Gefahr von Wechselwirkungen und teuren Doppelverschreibungen.
Doch die jahrelangen Diskussionen haben viel Verwirrung gestiftet, kaum jemand weiß, wie das Gesetz wirklich aussieht. Das zeigt auch ein Gespräch mit Wolfgang Spadiut. Der BZÖ-Gesundheitssprecher hat Gesundheitsminister Stöger und seinen Elga-Entwurf in Aussendungen heftig kritisiert – doch auf die Frage, was konkret er an dem Gesetz ändern würde, antwortet er nur: „Wie genau das ausschauen müsste, kann ich nicht sagen. Dazu bin ich zu wenig Profi.“
Was steht nun also wirklich im Elga-Gesetz? Dem aktuellen Entwurf zufolge müssen „Elga-Gesundheitsdiensteanbieter“, also vor allem Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser, in Zukunft „Elga-Gesundheitsdaten“ speichern. Dazu gehören etwa Labor- und Röntgenbefunde, Medikationsdaten, Entlassungsbriefe aus dem Krankenhaus und Patientenverfügungen.
Geht ein Patient zum Arzt, lässt er ein Röntgen machen oder holt er sich ein Medikament aus der Apotheke, wird das zehn Jahre lang direkt vor Ort gespeichert. Wenn der Patient später etwa in ein Krankenhaus eingeliefert wird oder einen anderen Arzt besucht, dann kann dieser seine Daten abrufen.
Dazu muss der Patient seine E-Card stecken und, so heißt es aus dem Gesundheitsministerium, den Zugriff auf seine Daten ausdrücklich erlauben. Im Gesetz verankert ist diese explizite Zustimmung allerdings nicht – ein wichtiger Kritikpunkt für Datenschützer.
Einzelne Gruppen von Ärzten dürfen überhaupt nicht auf Patientendaten zugreifen. Dazu gehören Amtsärzte, Schulärzte und Arbeitsmediziner sowie Ärzte, die für Versicherungen arbeiten. Auch Arbeitgeber, Personalberater, Versicherungen, Verwaltungsbehörden und Gerichte erfahren durch Elga nichts über einzelne Patienten. Gibt etwa ein Arzt Gesundheitsinformationen unerlaubt weiter oder verlangt ein Personalchef von einem Bewerber Einblick in dessen Daten, muss er mit bis zu sechs Monaten Gefängnis rechnen.
Während Ärzte, Apotheker und Krankenhäuser bei Elga mitmachen müssen, können Patienten die Teilnahme verweigern. Dass aber jeder Österreicher automatisch bei Elga dabei ist, sofern er nicht explizit widerspricht (Opt-out), ist einer der größten Kritikpunkte von Elga-Gegnern. Sie wünschen sich, dass Patienten ihre ausdrückliche Einwilligung geben müssen, um an Elga teilzunehmen (Opt-in).
Wegen der Opt-out-Regelung und weil die explizite Zustimmung des Patienten vor dem Zugriff nicht im Gesetz verankert ist, hat der Verfassungsrechtler Heinz Mayer den letzten Elga-Entwurf in einem Gutachten gar als „verfassungswidrig“ bezeichnet – auch der neue Entwurf habe seine Bedenken nicht verringert, sagt Mayer auf Falter-Anfrage. Das Gegenargument der Elga-Befürworter: Opt-out sei bequemer.
Nimmt ein Patient an Elga teil, kann er die über ihn gespeicherten Informationen jederzeit einsehen. Er kann individuell festlegen, welcher Arzt welche Daten abrufen darf, und in einem Protokoll nachschauen, wer wann auf sein Profil zugegriffen hat.
Die Elga GmbH – eine nicht gewinnorientierte Gesellschaft, die für die Entwicklung von Elga zuständig ist und zu gleichen Teilen dem Bund, den Ländern und den Sozialversicherungen gehört – will zu diesem Zweck ein Onlineportal einrichten, auf dem der Patient sich mit Bürgerkarte oder, ähnlich wie beim Onlinebanking, mit Passwort und Handy einloggen kann. Weniger technikaffine Menschen sollen bei eigenen Elga-Ombudsstellen Einblick in ihre Daten bekommen.
„Der Patient ist damit kein Bittsteller mehr, sondern bekommt die Verfügungsmacht über seine eigenen Informationen“, sagt die designierte Wiener Patientenanwältin Sigrid Pilz (Grüne), die wie ihr Vorgänger Konrad Brustbauer Elga positiv sieht.
Neben der Opt-out-Regelung wird derzeit vor allem um drei Bereiche gekämpft: Geld, Zeit und Datenschutz.
130 Millionen Euro soll Elga den Staat bis 2017 kosten – beinahe ebenso viel soll er sich dem Ministerium zufolge dann aber jedes Jahr dadurch ersparen.
Nicht eingerechnet sind in dieser Summe die Kosten für die Ärzte. Die müssen sich neue Software und womöglich auch Hardware anschaffen – mehrere tausend Euro könnte sie das laut Ärztekammer-Schätzung kosten. Denn die Kammer glaubt nicht, dass Elga „auf jedem halbwegs modernen herkömmlichen Computer laufen wird“, wie Susanne Herbek, Geschäftsführerin der Elga GmbH, verspricht. Das Gesundheitsministerium will an niedergelassene Ärzte Förderungen für die Elga-Anbindung vergeben – wie hoch die sein werden, weiß es noch nicht.
Aber nicht nur um ihr Geld machen sich die Ärzte Sorgen, sondern auch um ihre Zeit. Der neue Ärztekammer-Präsident Artur Wechselberger befürchtet, das neue System werde „tief in den Workflow der Ärzte hineinwirken“.
Weil im Gesetz nicht ausdrücklich festgeschrieben ist, dass die Elga-Software einen einheitlichen Dokumentenstandard und eine Suchfunktion bieten muss, hat er Angst, dass Ärzte sich durch hunderte Seiten von Krankengeschichten „durchackern“ müssen – und dass sie haften, wenn sie dabei ein Detail übersehen.
Auch beim Erstellen von Krankenakten könnte ein zusätzlicher Zeitaufwand auf die Ärzte zukommen: „Wenn sich auch ein Fremder – ein Nichtfacharzt oder Apotheker – darin auskennen muss, muss ich Dinge viel ausführlicher eintragen“, sagt der Wiener Allgemeinmediziner Horst Schalk.
Doch nicht alle Ärzte sind so skeptisch wie ihre Vertreter. „Die Stimmungsmache der Ärztekammer geht mir auf die Nerven“, sagt einer. „Die Kammer führt ein Scheingefecht, um nach innen zu beweisen, dass sie blockieren kann“, ein anderer. Besonders unter Spitalsärzten und Jungmedizinern finden sich durchaus Elga-Befürworter.
„In der älteren Generation gibt es halt eine gewisse IT-Skepsis, aber Elga könnte die Arbeit enorm erleichtern“, sagt Patrick Reichel, ein Jungarzt, der in Niederösterreich bereits mit einem Elga-ähnlichen System gearbeitet hat: „Und ob ich mich durch PC-Seiten scrollen muss oder die Daten als fetten Packen Papier vor mir liegen habe, ist egal.“ Martin Röggla, Notfallmediziner im Wiener AKH, klagt über Patientenaussagen wie „Ich nehme diese kleinen roten Tabletten, ich glaube, die sind fürs Herz“ und erhofft sich von Elga Abhilfe. „Das Fehlen dieser Informationen ist teuer, kostet Zeit und Mühe und gefährdet die Patienten“, sagt er.
Die dritte und zugleich größte und komplexeste Streitfrage dreht sich um die Art der Speicherung und den Datenschutz. Viele Kritiker stört, dass die Daten dezentral gespeichert werden. Der Datenschützer Hans Zeger von der Arge Daten etwa würde die Daten zentral bei einer vom jeweiligen Patienten ausgewählten Stelle speichern, BZÖ-Gesundheitssprecher Spadiut direkt auf der E-Card, und auf einer Elga-kritischen Website der Ärztekammer findet sich der Vorschlag, die Daten auf USB-Sticks zu speichern. Das lehnt aber selbst Ärztekammer-Präsident Wechselberger ab: „Bitte nicht, ich will ein Zukunfts-, kein Vergangenheitsprojekt.“
Datenschützer Zeger kritisiert auch, dass die Daten laut Gesetzesentwurf erst bei der Übertragung, nicht aber bei der Speicherung verschlüsselt werden müssen.
Doch auch ohne Elga speichern Ärzte und Krankenhäuser bereits heute Patientendaten. „Bisher gibt es keine Regelung speziell für Gesundheitsdaten, mit dem Elga-Gesetz wird der Datenschutz also massiv verbessert“, sagt Gesundheitsminister Stöger. Ein Wiener Spitalsarzt bestätigt das: In Krankenhäusern griffen routinemäßig mehrere Ärzte mit demselben Passwort auf Computer zu, dabei sei „null Datenschutz gegeben“. Und im Zweifelsfall, sagt der Notfallarzt Röggla, sei Überleben wichtiger als Datenschutz.
Die Gefahr, dass jemand Elga-Daten unbefugt weitergeben könnte, bestreitet Minister Stöger nicht; dank Protokollierung sei aber immerhin jeder Zugriff für den Patienten erkennbar und könne bestraft werden: „Gegen kriminelle Energien gibt es keinen hundertprozentigen Schutz – auch bei Mord bekommt man die Strafe erst im Nachhinein.“
Wie gut Elga schlussendlich sein wird, hängt von vielen Details bei der Umsetzung ab: Patienten und Ärzte müssen gut informiert werden, die Software muss übersichtlich programmiert sein, die Verschlüsselung sicher. Es gibt durchaus einiges, was da schiefgehen könnte; die totale Durchleuchtung beim Vorstellungsgespräch muss aber jedenfalls niemand befürchten.