Undine Zimmer wuchs in einer Hartz-IV-Familie auf und erklärt, warum Armut nicht nur ein Geldproblem ist
Wie leben Menschen, die trotz aller Bemühungen keinen fixen Job finden? Wie bringen sie mit wenigen hundert Euro im Monat ihre Familie durch? Und was passiert mit Kindern, die in solchen Verhältnissen aufwachsen?
Die Öffentlichkeit diskutiert gern über Armut, über Langzeitarbeitslosigkeit und darüber, ob Beihilfen wie die österreichische Mindestsicherung und das deutsche Hartz IV zu lax oder zu strikt gehandhabt werden. Aber die, die diskutieren, sind Politiker und Sozialforscher. Nur selten kommen Betroffene zu Wort, und so bleibt deren Lebenswelt für den Rest der Gesellschaft ein fremdes Universum voller Stereotypen.
Undine Zimmer hat dieses Universum hinter sich gelassen. Die Eltern langzeitarbeitslos und Hartz-IV-Bezieher, die 1979 geborene Tochter hat studiert und war 2012 mit ihrem Text „Meine Hartz-IV-Familie“, entstanden während eines Praktikums beim Zeit Magazin, für den renommierten Henri-Nannen-Preis nominiert. Jetzt hat sie aus dem Essay ein Buch gemacht. Es ist ein sehr persönliches Buch.
„Heute weiß ich, dass der Satz ‚Wir haben kein Geld‘ das ganze Leben und Denken bestimmen kann“, schreibt die Autorin: „Denn letztendlich geht es dabei gar nicht nur um Geld, sondern um Identität und Selbstbewusstsein.“ Und so beschreibt Zimmer nicht nur die materiellen Einschränkungen ihrer Kindheit und Jugend, sie analysiert auch deren Auswirkungen auf ihr Denken und Fühlen und das ihrer Eltern.
Sie verzichtet darauf, den Leser mit allzu emotionaler Sprache bewegen zu wollen. Auch wo sie ihre eigene Gefühlswelt und die ihrer Eltern seziert, bleiben ihre Sätze meist angenehm schlicht und sachlich. Das bewahrt ihr Buch davor, weinerlich zu klingen, wie jene Art von Bekenntnisliteratur, die vor allem der Therapie des Autors dient.
Denn über weite Strecken ist „Nicht von schlechten Eltern“ vor allem Autobiografie und Aufarbeitung einer Eltern-Kind-Beziehung – den Untertitel sollte man eher mit Betonung auf „meine Familie“ lesen als auf „Hartz IV“ -, und Zimmer tendiert dazu, die Ursache für alle Probleme, auch für normale Pubertätswirren, in der Armut zu suchen.
Sie habe „andere bewundert, ohne auch nur im Geringsten zu verstehen, dass die Souveränität, Schönheit und Unbeschwertheit, um die ich meine Freundinnen so beneidet habe, sich auch den unterschiedlichen finanziellen Lebensumständen verdankten“, schreibt sie und scheint nicht auf die Idee zu kommen, dass die Freundinnen vielleicht auch an sich selbst zweifelten und weniger souverän und unbeschwert waren, als der Teenager Zimmer sie wahrnahm.
Die Stärke des Buches sind jene Stellen, die Einblicke in die sozialen und psychologischen Mechanismen geben, die den Alltag armer Menschen prägen. Die genaue Planung aller Einkäufe etwa – in knappen Monaten müssen nicht nur die eingelegten Artischocken, die Zimmer so gern isst, im Supermarktregal liegen bleiben, sondern auch die 59-Cent-Schokolade – und der Drang, sich gelegentlich doch etwas zu gönnen. Die Scham, von der Mutter der Schulfreundin auf ein Eis eingeladen zu werden. Die Hoffnungsschimmer und Niederlagen bei der Arbeitssuche und die schwierige Kommunikation mit den wohlmeinenden, aber weltfremden Mitarbeitern des Arbeitsamts.
Eines der besten Kapitel ist jenes, in dem Zimmer fast kommentarlos das Arbeitssuche-Tagebuch ihres Vaters wiedergibt. „Was Armut in Deutschland ausmacht, ist Armut im Sozialen, fehlender Glaube an Bildungs- und Aufstiegschancen, an langfristige Investitionen und an sich selbst“, schreibt Zimmer. „Ironischerweise fehlt es genau an den Dingen, die bei uns wenig kosten: Zugang zu Informationen, Internet, Büchern, Wissen, Zeit und Platz für Kinder, damit sie sich austoben und entfalten können.“
In Kapiteln wie jenem, in dem die Autorin langatmig all ihre Verwandten vorstellt, hätten ein paar Kürzungen dem Buch nicht geschadet. Aber Undine Zimmer gelingt es, einen Einblick in das Universum ihrer Eltern zu gewähren und abseits von Schuldund Opferstereotypen, das heißt differenziert zu vermitteln, was Armut in einem reichen Land heute bedeutet.
Undine Zimmer: Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie. S. Fischer, 256 S., € 19,60
Falter-Buchbeilage, 9.10.2013