Bei einem Fußballmatch stürmen Jugendliche das Spielfeld und attackieren israelische Kicker. Was ist los mit den Austrotürken?
Seit Ende Juli kennt man die Salzburger Kleinstadt Bischofshofen sogar bei BBC und CNN. Das verdankt sie einem Match am örtlichen Fußballplatz: Der OSC Lille führt gerade 2:0 gegen Maccabi Haifa, als plötzlich eine Gruppe Jugendlicher mit Palästinaflaggen aufs Feld stürmt und sich mit den israelischen Spielern prügelt. Es sind keine Neonazis, sondern Teenager mit türkischen Wurzeln.

Wenige Tage zuvor protestieren in Wien 11.000 Menschen gegen den Gaza-Krieg. Neben „Freiheit für Palästina“ und „Gaza muss leben“ sind auch Transparente zu sehen, die weit über Kritik an der israelischen Politik hinausgehen: Demonstranten rufen zur Intifada auf, der Davidstern wird mit dem Hakenkreuz gleichgesetzt, eine Fotomontage des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu spielt auf die Ritualmordlegende an, derzufolge Juden das Blut nichtjüdischer Kinder trinken würden. Der Organisator der Demo: die Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD).
Hat die türkischstämmige Community in Österreich ein Antisemitismusproblem? Wenn ja, woher kommt es?
Dass in ganz Europa neben Israelkritik auch antisemitische Ressentiments hochkommen, wenn der Nahostkonflikt wieder einmal eskaliert, ist kein neues Phänomen. Ebenso wenig der „muslimische Antisemitismus“; bisher kannte man ihn allerdings von Arabern, nicht von Austrotürken.
Was nun in Wien und Bischofshofen passiert, hat seine Wurzeln in der türkischen Innenpolitik, sagen viele Beobachter. Die Türkei pflegte lange gute Beziehungen zu Israel. Zuletzt änderte sich das: Im Jahr 2009 gerieten der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan und der damalige israelische Präsident Schimon Peres bei einer Diskussion in Davos in heftigen Streit über den vorangegangenen Gaza-Krieg, Erdoğan stürmte vom Podium. Als dann 2010 beim israelischen Angriff auf das Schiff Mavi Marmara, das die Blockade des Gazastreifens brechen wollte, neun türkische Aktivisten getötet wurden, war es endgültig aus mit der Freundschaft. Ende Juli 2014 warf Erdoğan den Israelis vor, sie hätten „Hitler in Sachen Barbarei übertroffen„.
Solche Aussagen seien im Kontext des türkischen Präsidentschaftswahlkampfs zu sehen, sagt Cengiz Günay vom Österreichischen Institut für Internationale Politik. Erdoğan, der religiöse Sohn einer Arbeiterfamilie, saß in der laizistischen Türkei im Gefängnis und brachte es dann zum Premier. Nun stilisiert er sich zum Vertreter der diskriminierten religiösen Muslime. Der Gaza-Krieg komme ihm da gerade recht, sagt Günay: Er sei für Erdoğan ein willkommenes Symbol für die Unterdrückung und Erniedrigung der Muslime an sich.
Weil der Nahostkonflikt in der türkischen Öffentlichkeit lange keine große Rolle gespielt habe, sei wenig Wissen um dessen Hintergründe vorhanden, sagt Günay. Das mache es leicht, mit drastischen Fotos aus dem Gazastreifen, wie sie derzeit überall in den sozialen Netzwerken kursieren, Zorn zu erzeugen. Dazu komme noch das Gefühl, der in der globalisierten Welt dominante Westen bleibe beim humanitären Drama in Gaza untätig – da sei man schnell bei der Theorie von der Israel-Lobby.
Was hat all das nun mit Bischofshofen zu tun? Erstmals durften letzte Woche auch Auslandstürken wählen. Über ihre inoffizielle Vorfeldorganisation UETD, die auch Erdoğans Wien-Besuch im Juni organisierte, versuchte Erdoğans Partei AKP die Wähler im Ausland zu mobilisieren – mit denselben Methoden wie im Inland.
Eine zentrale Figur dabei ist UETD-Chef Abdurrahman Karayazili. Offiziell spricht er sich gegen Antisemitismus aus. Nachdem er wütend aus dem Studio einer ORF-Diskussion gestürmt war, schrieb er jedoch auf Facebook, der zuständige Redakteur sei „von der israelischen Lobby gesteuert“. Gegen die Moderatorin brach ein Shitstorm los.

Ob Karayazili wirklich an diese Verschwörungstheorie glaubt? Der Falter hätte gern mit ihm gesprochen und hat ihn mehrfach telefonisch, per E-Mail und via Twitter kontaktiert. Karayazili reagierte nicht.
Viele türkischstämmige Jugendliche in Österreich „bilden sich ihre Meinung auf der Grundlage von Erdogans Propaganda-Krieg gegen Israel, von Bildern toter Menschen ausschließlich aus Gaza und des Protestaufrufs der UETD“, sagt Ercan Nik Nafs, langjähriger Leiter eines Favoritner Jugendzentrums und nun Wiener Kinder-und Jugendanwalt. Bei „als antisemitisch abzulehnenden“ Vorfällen wie dem in Bischofshofen komme wohl jugendliche Freude an der Rebellion dazu.
Ein Interview, das Sahin K., einer der Jugendlichen, dem Magazin News gab, stützt diese Thesen. „Für mich sind Hitler und der eine aus Israel genau das Gleiche“, sagte er etwa und meinte mit „der eine“ Netanjahu. „Die ganze Zeit bombardiert nur Israel Palästina. Nur gibt es jetzt halt die Hamas-Truppe und die machen jetzt halt ein bisschen was“, wird er gleich danach zitiert – dass die Hamas seit über 20 Jahren Anschläge auf Israel verübt, weiß er offensichtlich nicht.
Es wäre jedoch ein Fehler, Vorfälle wie den in Bischofshofen als Problem „der Türken“ abzutun. „Türkeistämmige Menschen und auch die UETD-Anhänger sind keine homogenen Gruppen“, sagt Alev Çakır, Politologin an der Uni Wien.
Sahin K. ist laut News in Österreich zur Schule gegangen. Er weiß wohl nicht mehr und nicht weniger über den Nahostkonflikt als jeder andere 19-jährige österreichische Malerlehrling. Erst auf dem Boden der österreichischen Unbildung gedeiht die giftige Saat der Erdoğan’schen Agitation.
Falter, 6.8.2014